Entschuldigen Sie bitte, aber: Was tun Sie gerade? Nicht dass Siedas verraten müssten. Aber Sie dürfen, vielleicht wollen Sie sogar. Immerhin lassen mittlerweile Millionen Menschen die Welt freiwillig live an dem teilhaben, was sie gerade tun, denken oder fühlen. Auf Netzwerken wie Facebook oder Twitter veröffentlichen sie (ich auch) im Internet unentwegt, was sie umtreibt. „Bin müde“, „Trinke Kaffee in Honolulu“ oder „Ärgere mich über den Chef“, lassen sie ihre Freunde wissen – und oft stellen sie auch noch ein meist mit dem Handy geknipstes Foto dazu, das sie bei erwähnter Tätigkeit zeigt (oder den Chef in ungünstiger Pose). „What are you doing?“, fragt einen Twitter. Ich veröffentliche in diesem Moment die Antwort: „Schreibe eine Kolumne und weiß nicht weiter.“ (Kontrollieren Sie das ruhig unter www.twitter.com/jmwell).
Das ist toll, denn jetzt wissen meine Freunde um meine Schreibblockade, und vielleicht ist gerade einer in Paraguay oder Niedersachsen online und schickt mir ein paar aufmunternde Worte.
Das Problem daran ist mir nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub klar geworden. Ich saß statt in der Sonne in Hamburg-Lokstedt und las ein Posting von einer Netz-Freundin, die schrieb, dass sie gerade auf Mallorca mit den Nachbarn Lamm esse und sich toll unterhalte. Ich antwortete (natürlich öffentlich, heute ist alles öffentlich) sinngemäß: „Hast Du Lamm oder einen Laptop auf dem Teller?“ Denn wie, bitte schön, kann jemand essen, sich unterhalten und gleichzeitig darüber ins Netz berichten?
Seither hege ich den Verdacht, dass die Realität irgendwo zwischen Mallorca und Hamburg-Lokstedt ins Mittelmeer gefallen ist und nie wieder auftaucht. Wir tun nicht mehr, was wir tun, wir berichten nur noch über das, was wir tun würden, wenn wir nicht berichteten. Wenn wir mit Freunden in der Kneipe sitzen, reden wir nicht mit ihnen, sondern schreiben anderen per Handy, dass wir gerade mit Freunden in der Kneipe sitzen. Wir sind immer woanders, nur nicht dort, wo wir sitzen.
Apropos: Wo sitzen und was tun Sie also gerade? Verraten Sie nicht? Ich sage Ihnen trotzdem, was ich mache: einen Punkt.
Erschienen am 15.08.2009 in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.