Danke, Doktor!

Keine Ahnung, wie es Ihnen geht, aber ich kann nicht vergessen. Jedenfalls nichts Überflüssiges. Wenn ich nach etwas dringend Benötigtem hinten im Rechtshirn krame (dem Namen des Vorstandsmenschen, der mich gerade angrinst, oder der Geheimzahl meiner Kreditkarte, wenn ich die Rechnung bezahlen will), dann fällt mir mit Sicherheit die Marke des paraguayischen Billigbiers ein, das ich mir 1984 am Ufer des Paraná mit einem Kumpel geteilt habe. Aber der Vorstandsassi heißt nicht Pilsen Dorada. Und das ist auch nicht das Passwort für meine Amex.

Telefonnummern kann ich mir ganz gut merken, vorausgesetzt, es sind Nummern von Langweilern oder übellaunigen Frauen, die ich garantiert nicht anrufen will. Brauche ich eine wichtige Nummer, dann kommt erst nichts aus meinem Kopf, danach zum Beispiel mitten aus diesem Nichts ein 28.Juli (der Geburtstag einer Freundin, mit der ich 1989 mein Leben für immer teilen wollte) und dann die 44 17 77.

Diese Hamburger Telefonnummer ist mir die treueste Belanglosigkeit, seit mehr als 30 Jahren versuche ich sie erfolglos zu vergessen. Jetzt hat sie sich wieder in mein Leben gedrängt und sicher auch in das vieler anderer Norddeutscher. Denn der Mann, dem diese Nummer beinahe 30 Jahre lang gehörte, hat Hamburg für immer verlassen: Dr. Erwin Marcus ist mit 84 Jahren gestorben, was mich und wohl auch viele andere ganz persönlich trifft.

Lebensberater Dr. Marcus nämlich hat mich nicht nur zu einem Mann, sondern auch zu einem (relativ) glücklichen Menschen gemacht. Die Radiosendung „Was wollen Sie wissen?“, die er von 1971 bis ins Jahr 2000 im NDR moderierte, habe ich (heimlich) schon als Zwölfjähriger gehört, obwohl sie erst um 21 Uhr lief. Die Lebensgeschichten, die Dr. Marcus mit seinen Anrufern verhandelte, führten mich schonend an die Erwachsenenwelt heran – schonender als heutige Anrufsendungen, die fast nur Abseitiges erörtern („Ich möchte meine Gummipuppe heiraten“). Zugleich machten sie mich in gewisser Weise glücklich. Bewiesen sie doch, dass ich selbst, verglichen mit dem, was manche Erwachsene dort draußen erlitten, ein vergleichsweise zufriedenes Leben führte – trotz der oftmals drückenden Sorgen eines Zwölfjährigen.

Auch heute hat Dr. Marcus noch eine Botschaft: Unser Gedächtnis siebt offenbar doch richtig. Das Bier am Paraná war gewiss bedeutender für mein Leben als eine Amex-Geheimzahl. Ganz sicher gilt das für die 44 17 77 – und den Mann, der unter dieser Nummer 29 Jahre lang den Hörer abnahm.

Erschienen am 27. Februar 2010 in der Rubrik „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE  Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

Ein Kommentar

  1. Ähnlich nervig: noch das Autokennzeichen und den Geburtstag der Grundschullehrerin im Kopf haben, aber nie die eigene Postleitzahl.
    Spricht mir aus der Seele!
    Dem Ende des Artikels nach zu gehen muss mich die Lehrerin dafür aber ganz schön geprägt haben.
    Oder es liegt daran, dass sich meine Postleitzahl alle paar Monate verändert…

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