Letzte Worte

Wer es zu etwas bringen will im Leben, der muss die Zeit beherrschen. Genauer gesagt: die Kunst des richtigen Zeitpunkts. Nicht nur weil einer, der mittags zur Begrüßung „Morgen“ nuschelt, sich als unrettbar ehrgeizloser Langschläfer enttarnt. Auch weil es nicht opportun ist, just an dem Tag eine Gehaltserhöhung oder Beförderung oder einen Dienstwagen zu verlangen, an dem der Chef verkatert ist oder die Firma Insolvenz angemeldet hat.

Für Politiker und Wirtschaftsführer ist die Wahl des richtigen Zeitpunkts eine stete Herausforderung, der sie nicht immer gerecht werden. Ich habe es einmal erlebt, dass der Hamburger Bürgermeister von Beust und der damalige Handelskammer-Präses Dreyer zwei je wegweisende Reden in Hongkong hielten – auf Englisch, wegen der internationalen Relevanz ihrer Themen. Leider saßen im Publikum in diesem Moment aber nur 15 übermüdete Hamburger aus der Reisedelegation, die gar nicht so gut Englisch konnten, sonst war niemand gekommen, wenn man von einem chinesischen Teenagerpärchen absieht, das in der letzten Reihe Cheeseburger aß. Deswegen verpufften die mutigen Ruckreden, deren Themen ich leider vergessen habe, quasi ungehört, nicht einmal auf YouTube erschien ein Video.

Glaubt man dem spanischen Schriftsteller Javier Marias, so ist die Beherrschung der Zeit auch für prominente Dichter ein Problem. Das gilt vor allem für das Setzen der letzten Worte. Schon oft haben Dichter ihre Schlussweisheiten zu früh gesagt, dann aber dummerweise weitergelebt und für die famous last words nichts Gescheites mehr parat gehabt. Dem versoffenen Waliser Dylan Thomas etwa fiel am Ende nichts anderes ein als: „Ich hatte achtzehn volle Whisky, das ist Rekord.“

Der Frühling, der in diesem Jahr just in time kam, wirft derweil auch für die mitten im Leben Stehenden die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt auf. Ist es bereits Zeit für die Sommerjacke oder ist zunächst der Übergangsmantel vorzuziehen? Vorgestern saß ich im Bus neben einem Mann, der (bei 17 Grad) nur mit Shirt, Shorts und Schlappen unterwegs war. Ich fragte mich: Wenn dieser Herr die Zeit des Strandlooks schon jetzt für gekommen hält, was trägt er dann im Juli in meinem Bus? Und plötzlich wusste ich, dass dies der richtige Moment war, eine Entscheidung zu fällen: Spätestens vom Mai an werde ich mit dem Rad zur Arbeit fahren.

Erschienen am 27. März 2010 in der Rubrik „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert