Erdabstoßung

Es gibt Tage, da liegt einfach alles herum. Gestern Morgen bin ich barfuß in eine Horde Piraten getreten, die mir vor dem Hemdenschrank auflauerte (einer büßte mit einem ausgekugelten Plastikarm). Vorher hatte ich bereits mehrere Hände voller Schwerter und Armbrüste von der vorabendlichen Seeschlacht der bei mir wohnenden Freibeuter aus der Wanne geräumt, um halbwegs unverletzt eine Dusche zu nehmen. Ein paar Meter vor der Haustür übersprang ich nur knapp die Hinterlassenschaft des benachbarten Mops-Pudels, dessen Herrchen stets freundlich grüßt, während seine Milka mit krauser Stirn auf den Gehweg stoffwechselt. An der Hauptstraße wehte mir der Aschewind eine leere Bierdose entgegen. Und beim Arzt (reine Routinesache) lag schließlich eine vom Glastisch gerutschte Zeitschrift direkt auf meinem Weg zum letzten freien Stuhl.

Ich gehöre nicht zu den Zwangsneurotikern, die ihre Stifte im rechten Winkel auf dem Schreibtisch anordnen (nur schief geschnittener Käse stürzt mich in schwere Krisen). Dennoch spürte ich, während ich im Wartezimmer saß, eine unbändige Sehnsucht nach Ordnung. Ich malte mir aus, wie ordentlich es auf diesem Planeten aussehen könnte, wenn die Erdanziehungskraft sich schlagartig in eine Erdabstoßungskraft verkehren würde. All die Schwerter, Dosen und sonst wie herumliegenden Dinge würden in die unendlichen Weiten des Weltalls entschweben, und zurück bliebe ein aufgeräumter Planet. Ich brach dieses Denkexperiment ab, als mir einfiel, dass ich selbst dann auch gen Jupiter unterwegs wäre, inmitten von Zivilisationsunrat und Milkas Tagewerken.

Ratlos starrte ich auf die Zeitschrift. Es ist ziemlich schwierig, eine auf dem Boden liegende Zeitschrift auf dem Boden liegen zu lassen. Es erfordert eine gewisse Selbstbeherrschung, die Unordnung zu akzeptieren oder sie sich, besser noch, in eine Art Lebendigkeit umzudeuten. Ich habe genau 30 Minuten dazu gebraucht. In Anwendung einer alten Yoga-Atemtechnik erlangte ich trotz der provozierenden Postille schließlich vollständige Gelassenheit, und als ich beim Hinausgehen lächelnd über das mit Eselsohren verzierte Paris-Hilton-Titelbild stieg, wusste ich, dass ich zum ersten Mal eine Arztpraxis in der Gewissheit verließ, geheilt zu sein. Abends begrüßte ich zu Hause jeden einzelnen Piraten mit Handschlag.

Erschienen am 17. April in der Rubrik „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

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