Besonders energisch wird der Mensch im Allgemeinen, wenn er nicht für, sondern gegen etwas ist. In Hamburg entlädt sich diese Energie in jüngster Zeit vor allem in Volksinitiativen und Bürgerbegehren. Da wird der Hamburger initiativ gegen Bürohäuser, gegen Schulreformen, gegen Kita-Gebühren und nun gegen die Freiheit der Volksvertreter, Volkes Eigentum zugunsten der Staatskasse zu verkaufen.
Wahr ist: Ein Gemeinwesen kann sich über mitwirkende Bürger nur freuen. Insofern ist die Stärkung von Plebisziten ein Erfolg. Wahr ist aber auch: Man muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass alles im Leben eine Frage der Dosis ist. Und Hamburgs Politik ächzt mittlerweile unter einer Überdosis direkter Demokratie.
Die jüngste Abstimmungsinflation hat zweierlei gezeigt: Erstens ist es meist nur ein kleiner Ausschnitt der Gesellschaft, der Volksentscheide für sich einsetzt und sich an ihnen beteiligt. So haben an der Abstimmung über die Schulreform vor allem die gut organisierten Gegner teilgenommen. Die (angeblichen) Nutznießer, die eher in sozial schwächeren Schichten zu vermuten sind, haben sich kaum beteiligt.
Zweitens schickt sich das Plebiszitäre, das die repräsentative Demokratie ergänzen sollte, nunmehr an, die Parlamente zu ersetzen. Wenn den frei gewählten Abgeordneten durch Volksentscheide oder durch unter ihrem Druck zustande kommende Verträge (zehn Jahre Schulfrieden) immer neue Fesseln angelegt werden, droht das Parlament faktisch machtlos zu werden.
Wir haben aber zu gute Erfahrungen mit dem Parlamentarismus gemacht, um seinem Niedergang untätig zuzusehen. Die Forderung ist klar: Hamburg muss die Elemente seiner Demokratie wieder ins rechte Maß zueinander setzen.
Erschienen am 24. Juli 2010 in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.
Grundsätzlich sind Volksentscheide ein belebendes Element für die Demokratie. Allerdings wachsen meine Zweifel, ob ihr aktuelles Format wirklich geeignet ist, unsere Gesellschaft voranzubringen.
Ein Beispiel: Im Bezirk Altona hat die Vorlage von Scheuerl & Co mehr als 51 Prozent bekommen, die Vorlage der Bürgerschaft hat aber auch mehr als 51 Prozent bekommen. Mit anderen Worten: Beide sich widersprechende Vorlagen haben die absolute Mehrheit erreicht. Da ist vermutlich alles mit rechten Dingen zugegangen, aber das Ergebnis ist irrational.
Bei einem Volksentscheid werden komplizierte Sachverhalte auf einen Satz (oder vielleicht zwei Sätze) reduziert. Da bleibt zwangsläufig Inhalt auf der Strecke. Nehmen wir einmal an, es gäbe bundesweite Volksentscheide und jemand käme auf die Idee, einen Entscheid über die Laufzeiten von Atomkraftwerken anzuzetteln. Hieße die Frage dann „Sind Sie für eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraften?“ oder hieße sie „Sind Sie für einen Ausbau von erneuerbaren Energiequellen und befürworten Sie deshalb eine längere Laufzeit für die Brückentechnologie Atomkraft, um genügend Zeit für die Entwicklung von sicheren Techniken für die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zu haben?“ oder vielleicht „Sind Sie dafür, dass die fünf großen Energiekonzerne sich weiterhin mit der Atomkraft eine goldene Nase verdienen?“
Was mich auch noch skeptisch macht: Ich habe immer mehr den Eindruck, dass in erster Linie gar nicht über eine Sachfrage abgestimmt worden ist, sondern dass es eine Bürgerschaftswahl ohne Folgen für die Sitzverteilung war, ein Stimmungstest, der mal nicht von der Kunst der Meinungsforschungsinstitute abhing. Klar, das ist nur eine These! Aber wer legt mal zum Spaß über eine Karte mit den Hochburgen der Reformgegner eine Karte mit den Hochburgen der CDU? Ich bin davon überzeugt, dass sie erstaunlich deckungsgleich wären und zumindest ein Indiz für die Richtigkeit der These wären. Man setze sich nur einmal an einen Stammtisch (jaja) oder besuche eines der vielen Vogelschießen (vulgo: Schützenfeste) hier im Süden Hamburgs. Da würde man haufenweise auf Indizien stoßen!
Ein kleiner Ausschnitt, der sich beteiligt? Meines Wissens lag die Wahlbeteiligung beim Volksentscheid zur Schulreform (wenn auch nur leicht) oberhalb der Beteiligung zur Europawahl.
Daraus eine nicht ausreichende demokratische Legitimität der Volksentscheide ableiten zu wollen, ist mindestens gewagt.
Die zehn Jahre Schulfrieden, die jetzt ja schon nicht mehr gelten sollen, haben die Abgeordneten in freier Selbstbestimmung beschlossen. Einen wie auch immer gearteten Einfluß eines Volksentscheides vermag ich da nicht zu erkennen. Was diesen Einheitsbeschluß nicht besser macht.
Wenn aber die Verzweifelung ob des bevorstehenden Volksentscheides Triebfeder für diesen einmaligen Einheitsbeschluß war, war die Angst des Parlaments vor dem Volk offenbar groß – und damit die beste Begründung für die Korrektur des Parlaments durch das Volk. Denn ganz offenbar haben die Abgeordneten das nicht getan, wozu sie gewählt wurden – nämlich das Volk zu vertreten.