Fredos Fetisch

Erst im Rückblick wird sich klären, warum der Sohn meines Freundes immer dieses komische Wort sagt.

Man kann ein Leben nur rückwärts verstehen, hat der Philosoph Kierkegaard festgestellt, und trotzdem kann man es nur vorwärts leben. An diesem Punkt wird die Erzählung geboren, die Literatur, in der alles von einem abgeschlossenen Standpunkt, vom Ende aus betrachtet, einen Sinn bekommt und der Held wie der Schurke und das Weichei gleichermaßen als vollendete Figuren begnadigt werden. Die Literatur reicht den Sinn nach, der uns nach vorne Lebenden nicht erkennbar ist.

Ich habe mich bei all dem gefragt, was es bedeutet, dass das erste Wort des kleinen Fredo, dem Sohn eines guten Freundes, nicht Mama oder Papa, sondern Barcode war. So jedenfalls bezeugen es die Eltern, oder jedenfalls war Barcode das erste Wort außerhalb des innigen Kleinkindbereichs von Mama, Papa, Teddy, Brei. Danach kam nicht etwa Auto, Tatü oder Wau, nein: Barcode.

Ich sehe Fredos Vater nur selten, weil er im Süden wohnt, deswegen weiß ich nicht, ob er vielleicht, anders als er es immer behauptet, doch so konsumgeil ist, dass er die Tage mit seinem Sohn in Kaufhäusern verbringt und der jetzt Zweijährige dort unweigerlich auf dieses Wort gestoßen ist. Denn, Sie wissen es, Barcodes sind diese Strichsymbole, aus deren Linien sich mithilfe eines Scanners alle Daten der Welt lesen lassen, zumindest aber der Preis einer Ware. Sie finden sich auf jedem Produkt, und auch mit dem iPhone kann man sie lesen und sich anzeigen lassen, dass es die Milch oder den MP3-Player im Internet viel billiger gibt. Aber natürlich besitzt Fredo kein iPhone und meines Wissens auch keinen Scanner, wobei er, als er neulich in Hamburg zu Besuch war, sich nicht mehr von einer Kinderkasse mit Plastikscanner und Piepgeräusch wegbewegen wollte, die meinem Sohn Paul gehört, der bis heute nicht weiß, was ein Barcode ist.

Warum bloß ist das bei Fredo anders? Wenn der eine Schokolade sieht, sagt er nicht Schoko oder Lade oder fängt an zu essen, nein er dreht die Tafel um, deutet auf das Strichmuster und sagt herablassend lakonisch: Barcode. Ist Fredo ein Technikgenie? Wird er als Erster zum Mars fliegen? Will er als Aldi-Kassierer arbeiten?

Ich mag Dinge nicht, die ich mir nicht erklären kann, aber mein Freund ist die Langmut in Person, er hat von uns beiden die besseren Gene. Vielleicht hat er aber auch einfach seinen Kierkegaard besser intus. Und weiß, dass man Fredos Fetisch bestenfalls rückwärts verstehen wird – wenn er und ich und Fredo selbst längst aufgehört haben, uns Gedanken zu machen.

Erschienen am 8. Januar 2011 in der Rubrik „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

 

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