Ein Zaun, den der Bezirk Hamburg-Mitte unter einer von Obdachlosen als Schlafplatz genutzen Brücke aufstellen ließ, sorgt seit Tagen für Diskussionen. Jetzt eskaliert der Streit: Es hat Anschläge auf Autos und Wohnhäuser von Politikern und Droh-Mails gegeben, Amtsträger stehen unter Polizeischutz. Ein Kommentar.
Es ist Zeit, ein paar Dinge geradezurücken. Der Streit über den Zaun gegen Obdachlose, den Mitte-Bezirksamtsleiter Markus Schreiber unter einer Brücke hat bauen lassen, war von Beginn an ein hysterischer Streit. Er wurde von der Opposition vor allem zu einem großen Polittheater genutzt. Die Grünen, die in Hamburg-Mitte in die Probleme seit Jahr und Tag eingeweiht waren, zeigten sich schwer vergesslich und gaben nun die empörten Gutmenschen. CDU-Chef Weinberg sprach von einem „Zaun der Ausgrenzung“, als sei jemand, den eine Gesellschaft unter einer Brücke dahinvegetieren lässt, gut eingegliedert.
Nicht nur manche Zeitung stilisierte Bezirksamtsleiter Schreiber zu einem herzlosen „Sheriff“, zu einem Feind der Gestrandeten, auch die Opposition ließ ihn so dastehen. „Schreiber tut der Stadt nicht gut“, ließ etwa FDP-Fraktionschefin Suding verbreiten. Anstatt über das Problem der Obdachlosigkeit zu diskutieren, schoss man sich auf eine Person ein. Es erscheint wie eine logische Folge, dass Markus Schreiber und seine Familie mittlerweile von der Polizei geschützt werden müssen. Auch der Anschlag auf den SPD-Fraktionschef in Mitte, Falko Droßmann, ist eine Folge der politisch und medial geschürten Hysterie.
Nun sollten alle Beteiligten einen Schritt zurücktreten und bei der Deeskalation helfen. Dazu ist es zunächst einmal sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, wie alles begann: Unter einer von vielen Hamburgern und ihren Gästen regelmäßig passierten Brücke lagern seit geraumer Zeit Obdachlose, sie trinken und verrichten hier ihre Notdurft hier, und es ist in diesem Umfeld immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen gekommen. Eine Frau wurde vergewaltigt, ein Mann getötet. Es ist nicht nur das Recht, sondern die Pflicht eines verantwortlichen Politikers, auf solche Umstände zu reagieren.
Zweitens muss endlich mit der Mär aufgeräumt werden, Obdachlosigkeit sei in unseren Breiten in erster Linie ein Zeichen von Armut und Wohnungsnot. Viele Studien belegen, dass die meisten Obdachlosen schwer alkohol- oder drogenkrank sind, viele leiden unter gravierenden psychischen Problemen. Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, sich um diese Menschen zu kümmern – aber sie taugen nicht als Symbole für eine allgemeine Verteilungsdebatte. Wer sie dafür benutzt, wird ihnen nicht gerecht.
Drittens kann man das Thema nicht ausschließlich unter sozialpolitischen Aspekten betrachten. Es geht auch um Sicherheit und Sauberkeit in der Stadt – Themen, die die SPD 2001 die Macht gekostet haben. Auch wenn jemand schicksalhaft ganz unten landet, hat er trotzdem nicht das Recht, seine Notdurft unter (oder neben) jede Brücke der Stadt zu setzen.
Die Eskalation der Gewalt sollte Anlass sein, die Debatte noch einmal neu zu beginnen – und sie nunmehr differenziert und lösungsorientiert zu führen.
Erschienen am 10. Oktober 2011 in WELT und WELT ONLINE unter dem Titel „Einen Schritt zurücktreten“.