Zomia, oder die neue Sprengkraft der Symbole

In Hamburg droht der Konflikt um einen kleinen Bauwagenplatz im Stadtteil Wilhelmsburg zu eskalieren. Die Politiker, die auf ein kompromissloses Vorgehen der Behörden drängen, unterschätzen die gefährliche politische Gemengelage in der Stadt – und haben möglicherweise die Zeichen der neuen (Internet-)Zeit nicht erkannt. Ein Kommentar.

Es geht nur um 15 Studenten in zehn Bauwagen. Aber der Konflikt um die Zomia-Gruppe könnte schon bald zu einem Kristallisationspunkt für eine große innerstädtische Protestbewegung werden. Das liegt zum einen daran, dass wir mittlerweile durch das Internet, durch Twitter, YouTube und Facebook, durch ein Leben ohne Redaktionsschluss und nächtliches Testbild in einer Zeit der „kreisenden Erregung“ leben, wie es der Internetexperte und Systemtheoretiker Prof. Peter Kruse in einem beeindruckenden Kurzvortrag vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages erläutert hat.

Jeder Konflikt, egal, wie unbedeutend er zunächst erscheint, kann heute ungeheure Symbolkraft entfalten und zur schnellen Mobilisierung führen. Man kennt dieses von Kruse als „Tendenz zur Selbstaufschaukelung“ bezeichnete Phänomen von den arabischen Revolutionen, aber auch von der weltweiten Occupy-Bewegung, von den blitzschnell per Internet organisierten Studien und Petitionen, die den Rücktritt des falschen Doktor Guttenberg erzwangen. In Hamburg hat der Streit über den Zaun an der Kersten-Miles-Brücke zuletzt zu einer unerwartet aufgeregten Diskussion geführt. Politik muss in diesen Zeiten völlig neuer Kommunikationsdynamik, so Kruse, viel empathischer agieren, sprich: „ein Gefühl für die Resonanzmuster der Gesellschaft“ entwickeln. Sie muss genau die Punkte vorab zu erkennen suchen, von denen eine „Selbstaufschaukelung“ ausgehen kann. Nur so kann sie explosive Situationen, die sich am Ende nicht mehr leicht beherrschen lassen, vorab vermeiden.

Unabhängig von diesen systemtheoretischen Erwägungen trifft der Zomia-Konflikt in Hamburg derzeit sehr praktisch und konkret auf eine Lage, in der es aufgrund schwerwiegender politischer Fehler viel zu wenig Wohnraum gibt. Schon lange machen gut organisierte Bewegungen wie „Recht auf Stadt“ Mietenexplosion und die Verdrängung sozial schwacher Menschen aus ihren Stadtteilen zum Thema. Auch der Streit über den Umgang mit Obdachlosen, etwa am Hauptbahnhof, ist nicht ausgefochten. Das weltweite Versagen von Politik und Finanzindustrie auf Kosten der einfachen Bürger macht die Grundstimmung der weniger weich Gebetteten auch in einer reichen Metropole wie Hamburg nicht eben entspannter.

In dieser Gemengelage könnte die gewaltsame Räumung eines kleinen Bauwagenplatzes rasch zu einer breiten Mobilisierung gegen angebliche „Immobilienspekulanten“, gegen „Reiche“, gegen „die Herrschenden“ oder gegen „die da oben“ schlechthin führen. Schon jetzt hat es Anschläge auf Autos und Häuser von Politikern gegeben. Es ist zu hoffen, dass die Täter dingfest gemacht werden. Wichtig ist aber auch, dass die Politik in einer solchen Lage einen kühlen Kopf bewahrt.

Die Verantwortlichen müssen sich fragen, ob sie wegen zehn Bauwagen wochenlange Innenstadtdemos in der Vorweihnachtszeit oder eine Art innerstädtischen Klassenkampf provozieren wollen – oder ob sie einer unnötigen Aufschaukelung nicht besser aus dem Weg gehen. Der frühere CDU-Bürgermeister Ole von Beust, daran sei in diesem Zusammenhang erinnert, hat den damals die ganze Stadt nervenden Konflikt um die Bambule-Bauwagen 2004 getreu seinem Motto „Leben und leben lassen“ gelöst. Mit einem Kompromiss – und nicht mit dem Aufmarsch von Hundertschaften.

In kürzerer Fassung auch erschienen am 9. November 2011 im Hamburg-Teil der WELT und auf  WELT ONLINE. Prof. Kruse rät der Politik übrigens zu mehr Empathie und mehr Transparenz. Da die Netze (also auch Facebook, Twitter etc.) derzeit gesellschaftliche Entwicklungen insgesamt gut abbildeten, könnten in ihnen herannahende Aufschaukelungen möglicherweise frühzeitig erkannt werden. Wer also zu weit von den Netzen entfernt ist, so die Schlussfolgerung in meinen Worten, verliert an politischer Kompetenz. Hier dazu die Nachfragerunde in der Enquete-Kommission.

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