Der Faktencheck zu den Hamburger Energienetzen

Wahlen gelten bekanntlich als Feste der Demokratie. Nun kann man darüber streiten, welches das größere Fest ist, wenn die Hamburger am 22. September zu den Urnen gerufen werden. Neben der Wahl zum Deutschen Bundestag steht dann nämlich auch der Volksentscheid zum vollständigen Rückkauf der Energienetze auf der Agenda. Bei keiner bisher direkt vom Volk gefällten Entscheidung in der Hansestadt ging es um so viel Geld wie bei dem von der Volksinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“ durchgesetzten „Volksentscheid über die Hamburger Strom-, Fernwärme- und Gasleitungsnetze“. Zwischen 1,5 und zwei Milliarden Euro würde es den Steuerzahler kosten, wenn der Volksentscheid erfolgreich wäre. Das Problem: So bedeutsam der Entscheid, so komplex die Materie. Um etwas Licht in die Debatte zu bringen, die dieser Tage in finstere Polemik abzurutschen droht, unterzieht die „Welt am Sonntag“ die Diskussion zum Netzrückkauf einem Faktencheck.

1. Was die Initiative will

Die Volksinitiative will, dass der Senat alle „notwendigen und zulässigen Schritte“ unternimmt, um die Energienetze wieder in kommunale Hand zu bringen, die Ende der 90er-Jahre zusammen mit der Privatisierung von HEW und Hein Gas verkauft wurden. Dazu soll die Stadt eine neue Netzgesellschaft gründen. Das Energienetz erreicht mit mehr als 35.000 Kilometern fast die Länge des Äquators. Am längsten ist das Stromnetz mit 27.500 Kilometern, gefolgt vom 7300 Kilometer umfassenden Gasnetz. Am kürzesten ist mit 800 Kilometern das Leitungsnetz der Fernwärme. Der Wert des Gesamtnetzes wird auf zwei Milliarden Euro taxiert.

2. Was der SPD-Senat will

Der SPD-Senat von Bürgermeister Olaf Scholz hat mit E.on und Vattenfall eine Netzbesitzgesellschaft gegründet und daran einen Anteil von 25,1 Prozent erworben – zum Preis von 543,5 Millionen Euro. In dem Vertrag wird eine auf fünf Jahre befristete Garantiedividende von 4,2 bis 4,5 Prozent festgelegt. Auf diese Weise will sich der Senat strategischen Einfluss sichern, ohne selbst ein unternehmerisches Risiko einzugehen.

Vattenfall-Norddeutschland-Chef Pieter Wasmuth sagte der „Welt am Sonntag“: „Der Vertrag ist ein gutes Geschäft für die Stadt – und für uns. Die Stadt erhält eine Garantiedividende und ein Mitspracherecht, das weit über die normalen Rechte bei einem Anteil von 25,1 Prozent hinausgeht. Für uns ist es gut und wichtig, die Stadt als Partner zu haben, weil das zu verlässlichen Rahmenbedingungen führt – auch nach Regierungswechseln.“

Auffällig an der 25,1-Prozent-Lösung: Sehr verbreitet ist diese Variante bisher nicht. Bei der Expertenanhörung in der Bürgerschaft unterstützte keiner der Sachverständigen direkt das Scholz-Modell. Entweder die Fachleute sprachen sich gegen jegliche Beteiligung an den Netzen aus oder sie plädierten dafür, eine Mehrheit von mindestens 50,1 Prozent zu erwerben. Die Berliner SPD von Bürgermeister Klaus Wowereit will die Mehrheit am Netz. In Bremen und bei Kommunen in Schleswig-Holstein immerhin werden ähnliche Lösungen wie die des Hamburger SPD-Senates verfolgt. Die SPD im Bund tendiert ausweislich etwa von Anträgen der Bundestagsfraktion eher stärker zu einer Rekommunalisierung. Grüne und Linke in Hamburg unterstützen die Initiative mit der 100-Prozent-Forderung. CDU und FDP sind gegen jegliche Beteiligung am Energienetz und unterstützen die Scholz-Lösung derzeit nur deshalb, weil sie ihnen immer noch besser erscheint als der von der Initiative geforderte vollständige Rückkauf.

3. Wer sind die Kontrahenten?

Die Volksinitiative wurde u.a. vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Hamburg, der Verbraucherzentrale und der Diakonie des Kirchenkreises Hamburg-Ost ins Leben gerufen und wird von mehr als 40 anderen Organisationen unterstützt. Auf der anderen Seite steht der SPD-Senat zusammen mit CDU und FDP. Vor zehn Tagen gründete sich zudem die Initiative „NEIN zum Netzkauf“. Darin sind zahlreiche Wirtschaftsverbände organisiert, auch die Handels- und Handwerkskammer, außerdem der Steuerzahlerbund und die Industriegewerkschaft IGBCE. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Wirtschaft in der Frage der Energienetze weitgehend geschlossen hinter dem Bürgermeister steht.

4. Woher soll das Geld kommen? Lohnt sich das Geschäft?

Bereits der Kauf der 25,1 Prozent an den Netzen für immerhin fast 544 Millionen Euro wurde über die Hamburger Gesellschaft für Vermögens- und Beteiligungsmanagement (HGV) abgewickelt. Diese nahm dafür Kredite auf. Sollte Hamburg das gesamte Netz zurückkaufen, würde dies wohl auch über die HGV laufen. Der Haushalt würde also nicht unmittelbar belastet. Nach einem von der Initiative vorgelegten Gutachten könnte der Kaufpreis binnen 24 Jahren durch die im Netzbetrieb erzielbaren Gewinne wieder eingespielt werden. Unabhängige Experten sehen diese Möglichkeit auch, formulieren aber vorsichtiger. Eine verlässliche Prognose, wann sich der Kauf amortisiere, sei ohne Kenntnis aller Details nicht möglich, sagt etwa Roland Broemel, Juniorprofessor für Öffentliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Uni Hamburg. „Es besteht aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Kauf irgendwann amortisiert – wenn der Netzbetrieb effektiv organisiert wird.“ Denn, so Broemel: „Für effizient arbeitende private Netzbetreiber leistet der Netzbetrieb einen hohen Deckungsbeitrag.“

Hamburg könnte überdies die vier großen Netze aus Strom, Gas, Fernwärme und Wasser gemeinsam organisieren und durch Synergien Kosten senken.

5. Nötige Investitionen

In den kommenden Jahren sind durch die Energiewende hohe Investitionen nötig. Die Netze müssen „intelligent“ gemacht und für eine dezentralere Energieerzeugung modernisiert werden. Der Senat hat sich von Vattenfall und E.on Projekte (etwa den Neubau des Kraftwerks in Wedel) und eine Investitionssumme von 1,6 Milliarden Euro in zehn Jahren zusichern lassen. So sollen die Energiekonzerne zu Partnern bei der Energiewende werden. Die Kritiker betonen, dass ein großer Teil der Investitionen sowieso schon angekündigt war und die Gesamtsumme die Durchschnittsinvestitionen der vergangenen Jahre gar nicht überschreite.

6. Der umstrittene Abstimmungstext

Der Text, über den die Hamburger beim Volksentscheid abstimmen müssen, lautet: „Senat und Bürgerschaft unternehmen fristgerecht alle notwendigen und zulässigen Schritte, um die Hamburger Strom-, Fernwärme- und Gasleitungsnetze 2015 wieder vollständig in die Öffentliche Hand zu übernehmen. Verbindliches Ziel ist eine sozial gerechte, klimaverträgliche und demokratisch kontrollierte Energieversorgung aus erneuerbaren Energien.“

Bürgermeister Olaf Scholz und die SPD beklagen an diesem Text zweierlei. Erstens sei er zu unkonkret, die Initiative sage nicht, was der Senat denn tun solle. Eine merkwürdige Kritik. Denn zum einen hat es laut Verband kommunaler Unternehmen (VKU) seit 2007 mehr als 200 Rekommunalisierungen von Energienetzen gegeben, so dass das Prozedere klar und erprobt ist – mithin kein Hexenwerk. Zum anderen ist Olaf Scholz ein erfahrener Politiker und die Hamburger Verwaltung hochkompetent. Gemeinsam wären sie sicher in der Lage, die „notwendigen und zulässigen Schritte“ umzusetzen. Wenn sie es denn wollen.

Viel stärker verfängt der zweite Kritikpunkt. Der Text tue so, als könne man mit den Energienetzen für soziale Gerechtigkeit sorgen und dafür, dass mehr erneuerbare Energie erzeugt wird, moniert die SPD. Zu Recht. „Der Netzbetrieb selbst bietet nur eingeschränkte Steuerungsmöglichkeiten“, sagte Jurist Broemel. „Er ist im Wesentlichen zum Geldverdienen da. Einfluss auf die Art der Erzeugung der Energie hat man nicht, weil alles nach den energiewirtschaftsrechtlichen Priorisierungen und im Übrigen diskriminierungsfrei durchgeleitet werden muss.“ Man könne allerdings „im Rahmen der Entgeltregulierungsmaßstäbe die Netzentgelte ändern oder innerhalb des Netzbetriebs bestimmte Umweltstandards einführen und gewisse Investitionsschwerpunkte setzen“.

7. Bekommt Hamburg die Netze in jedem Fall zurück, wenn der Volksentscheid erfolgreich ist?

Nein. Zunächst müsste der Vertrag mit Vattenfall und E.on komplett rückabgewickelt werden. Zeitgleich müsste Hamburg eine eigene Netzgesellschaft gründen. 2014 läuft die Konzession für das Stromnetz aus. Hamburg muss es neu ausschreiben und müsste sich dann mit der eigenen Gesellschaft um das Stromnetz bewerben. Dabei würde die Stadt wohl auch gegen Vattenfall antreten, das sich auch bewerben will. Sollte Hamburg seiner eigenen Netzgesellschaft die Konzession erteilen, könnte jeder unterlegene Mitbewerber die Entscheidung gerichtlich überprüfen lassen. „Bei einer Bewerbung um die Konzession könnte ein Eigenbetrieb, der bei null anfängt, zu Nachteilen führen“, so Wirtschaftsrechtler Broemel. „Andererseits besteht die Möglichkeit, mit den Arbeitnehmern auch Know-how des bisherigen Betreibers zu übernehmen.“

8. Ist die Scholz-Variante risikofrei?

Nein, auch die gemeinsame Gesellschaft von Stadt, E.on und Vattenfall muss sich, wie alle anderen, um die Konzession bewerben. Auch in diesem Fall können Mitbewerber die Konzessionierung gerichtlich überprüfen lassen. Hinzu kommen Gerüchte über einen Rückzug Vattenfalls aus Deutschland. Zwar würden die Verträge auf den Käufer übergehen, weitere Auswirkungen sind aber nicht absehbar.

9. Wie sieht es in anderen Metropolen und Kommunen aus?

Großstädte wie München oder Frankfurt haben ihre Energieversorgung nie privatisiert und stehen mit ihren kommunalen Betrieben heute glänzend da. Seit 2007 ist die Zahl der Kommunen gestiegen, die einst privatisierte Energienetze zurückgekauft haben. „Der Trend zur Übernahme von Strom- und Gasnetzen durch Kommunen hält unverändert an“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU), Hans-Joachim Reck. „Derzeit schwingt das Pendel in Richtung Rekommunalisierung.“

10. Was ist mit den Beschäftigten?

Laut Senat sind 956 Mitarbeiter bei den Netzgesellschaften für Gas, Strom und Fernwärme beschäftigt. Im Rahmen eines Betriebsübergangs könnten diese in eine städtische Gesellschaft zurückkehren. Das wollen aber viele nicht, weil sie um ihre Arbeitsplätze fürchten. Hamburgs Ver.di-Chef Wolfgang Abel und DGB-Chef Uwe Grund betonten im Gespräch mit der „Welt am Sonntag“, dass es innerhalb der Gewerkschaften zum Netzkauf unterschiedliche Ansichten gebe.

11. Was empfehlen die Experten?

In der Anhörung der Bürgerschaft gab es für die Scholz-Variante kaum Zuspruch. Staats- und Verwaltungsrechtler Claudio Franzius, der ein Seminar an der Uni Hamburg zum Thema Energienetze gab, bezeichnet die 25,1-Prozent-Variante im Gespräch als „Kuddelmuddel-Lösung“ und plädierte für den Rückkauf. Wirtschaftsrechtler Broemel dagegen sagt: „Ein Empfehlung aus wissenschaftlicher Sicht ist nicht möglich. Es handelt sich um eine politische Entscheidung. Beide Varianten haben ihre Vor- und Nachteile. Keine ist in sich unvernünftig.“

12. Und nun? Ein Fazit

Beide zur Abstimmung stehenden Varianten folgen einer inneren Logik. Beide sind mit Risiken behaftet. Es geht also nicht um eine Entscheidung zwischen Gut und Schlecht, Richtig oder Falsch. Es geht um eine politische Entscheidung, die viel mit der Grundhaltung des Abstimmenden zu tun hat. Wer glaubt, Gas-, Strom- und Fernwärmenetz seien wie das Wassernetz als Teil der „Daseinsvorsorge“ bei der Stadt besser aufgehoben – der hat gute Gründe, beim Volksentscheid mit Ja zu stimmen. Wer eher der Ansicht ist, dass der Staat nicht unbedingt als Unternehmer auftreten sollte und nicht möchte, dass die Stadt das wirtschaftliche Risiko des Netzerwerbs eingeht und dafür 1,5Milliarden Euro neue Schulden macht – der sollte aus diesen eben so guten Gründen mit Nein stimmen.

Erschienen am 18. August 2013 in „Welt am Sonntag“ und DIE WELT.
Eine von mir moderierte „Hamburger Presserunde“ zum Volksentscheid über die Energienetze im TV-Sender Hamburg1 findet sich hier.
 

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