„Ihr trinkt unser Blut“: Sind wir in Griechenland noch willkommen?

Auch heute kann man als Deutscher in Griechenland schöne Ferien verbringen. Wer sich auf mehr als Small Talk einlässt, stellt aber fest: Kaum jemand hier versteht die Art, mit der Deutschland gegenüber Südeuropa auftritt. Notizen von einer Familienreise durch ein Land, in dem trotz allem viel gelacht wird. Und ein paar Gedanken zum europäischen Haus. Aus dem Magazin des „Hamburger Abendblattes“. 

Heute denke ich, dass der kleine, ein bisschen verrückte Mann, den ich für eine Weile fasziniert auf der U-Bahnfahrt zwischen Kifisia und der Athener Innenstadt beobachtet habe, das beste Bild für diese Geschichte sein könnte, oder sagen wir: für die Lage der Griechen. Aber angefangen hat alles viel früher, mit all diesen Diskussionen zu Hause in Hamburg auf dem Sofa. Meine Frau hat einen Teil ihrer Kindheit in Griechenland verbracht, als Enkelin eines deutschen Auswanderers, der schon in den 1920ern ahnte, was kommen würde, und der die Sonne von Samos der deutschen Herrschsucht vorzog.

Deswegen hat sie einen anderen Blick auf diese unendliche Geschichte des täglichen Beinahe-Untergangs von Hellas und Europa, in der es um irrsinnige Summen geht, die uns sowieso nichts sagen, um Steuersätze, Börsenkurse und Bonitäten – und um Hahnenkämpfe zwischen Männern, die wahlweise sehr grantig gucken oder von Motorrädern herabgrinsen.

Im Studium habe ich gelernt: „Langfristig sind wir alle tot“

Ich habe bei unseren Diskussionen meistens den Schäuble gegeben und gesagt, ich hätte nun genug von den Listen des Odysseus, und es könne ja wohl nicht sein, dass ein kleines Land mit ein paar Olivenbäumen den ganzen Kontinent zum Narren halte.

Meine Frau hat dann erzählt von Athener Freundinnen, die nach Gehaltskürzungen und Massenkündigungen mit ihren Familien kaum noch über die Runden kämen, oder von einem Bekannten, der trotz akuter Krebserkrankung wochenlang auf eine dringend notwendige Behandlung vertröstet wurde. Und sie hat mit Vorliebe all diese keynesianischen US-Ökonomen zitiert, die täglich neu erklären, dass Austerität nicht funktioniere, weil Nachfrageentzug in der Krise so wirke wie eine Fastenkur auf einen Unterernährten, nämlich tödlich.

Gegen ihre Zahlen kam ich nicht an: Seit wir den Griechen so angeblich selbstlos helfen und ihnen die Regeln der Ökonomie beibringen, ist ihre Wirtschaft wie verrückt geschrumpft und die Arbeitslosigkeit irrsinnig gestiegen. Vielleicht macht diese Leidenskur ja langfristig alles besser, aber aus meinem Volkswirtschafts-Nebenfachstudium erinnere ich mich gut an den Satz des Ökonomen John Maynard Keynes: „Langfristig sind wir alle tot.“

Dass wir ausgerechnet jetzt zum ersten Mal im Sommerurlaub nach Griechenland gefahren sind, war reiner Zufall. Kein optimaler Zeitpunkt, wie wir feststellen, als ein paar Wochen vor unserer Abreise die griechischen Banken schließen und man nicht sicher sein kann, ob man erstens überhaupt Geld und Benzin und eine Liege am Strand bekommt und was das nun alles kostet – und ob einen zweitens die Griechen nicht eiskalt in ihr lauwarmes Mittelmeer jagen, sobald sie einen als Schäuble-Landsmann identifizieren.

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Jassas, Griechenland!
Fährfahrt zwischen den Inseln.

Auch wenn es also als gewagtes Abenteuer erscheint, mit unseren Söhnen (und viel Bargeld) von Hamburg über Venedig mit der Fähre nach Patras und von dort nach Athen und zurück auf die ionische Insel Zakynthos zu fahren – die Befürchtungen stellen sich schnell als übertrieben heraus. Weder gibt es lange Schlangen vor Tankstellen, noch (für Touristen) Probleme beim Bargeld. Die Preise sind auch kaum gestiegen, und die Griechen begegnen uns gastfreundlich wie eh und je – was sicher nicht allein daran liegt, dass meine Frau fast akzentfrei Griechisch spricht, viele sie für eine Auslandsgriechin halten und sie die Herzen unserer Gastgeber schon dadurch erobert, dass sie auf Nachfrage berichten kann, dass ihr Vater auf Samos geboren ist. Dass der Urlaub zu Beginn trotzdem eine Übung in Gelassenheit wird, hat deswegen nichts mit den Griechen zu tun, sondern mit den Deutschen und den Staus auf ihren Autobahnen und damit, dass uns in Venedig ein Reifen platzt.

Hellas2015_777Griechenland empfängt uns nach der Fährfahrt von Ancona nach Patras Ende Juli mit blauem Himmel und einer absurden Hitze von mehr als 40 Grad. Dass man unter solchen Bedingungen nicht unbedingt fürs Bruttosozialprodukt in die Hände spuckt, liegt nahe. Dass aber die Autobahn von Patras nach Korinth auf einer Länge von mehr als 100 Kilometern eine einzige Baustelle ist, auf der man keinen Arbeiter sieht, das erstaunt uns doch bei unserer Fahrt über den Peloponnes. Hitzefrei mitten im Überlebenskampf – wo gibt’s denn sowas? Die großen Schilder mit den Sternen auf blauem Grund lösen das Rätsel: „Hier baut die EU eine Autobahn für Griechenland.“ Oder eben nicht.

„Die Griechen sind so furchtbar überzeugt von sich“

Am Abend erreichen wir Schinias, einen kleinen Badeort in der Nähe von Marathon, dem Städtchen mit dem berühmten Läufer, dessen Stausee auch als Trinkwasserreserve für Athen dient. Wir übernachten bei Freunden. Dieter ist in Griechenland geboren, hatte früher eine Handelsvertretung in Athen und ist lange pensioniert. Auf seinem Ferienhausklo läuft ununterbrochen ein griechischer Nachrichtensender im Radio. Ich verstehe beim Zähneputzen nur die Namen: Tsipras, Märrkell und Schaupple (ausgesprochen wie eine bitterböse Beschimpfung). Und natürlich Varoufakis, der an einer Parallelwährung gearbeitet haben soll, was dieser Tage für Aufregung sorgt.

Dieter liebt dieses Land, die Menschen, die Wärme, das Meer, die Olivenbäume, den täglichen Irrsinn. Er würde hier niemals weggehen. Trotzdem sagt er: „Die Griechen sind so furchtbar überzeugt von sich: Sie glauben, ihr Land sei das schönste, ihr Essen das beste, und nirgends auf der Welt seien die Frauen hübscher als in Griechenland. Sie sind so nationalistisch, wären sie Deutsche, wären sie perfekte Nazis.“ Insa, seine in Hamburg groß gewordene Lebensgefährtin, ist auch seit 50 Jahren hier. „Fahrt bloß nicht mit dem Auto nach Athen, Kinners, mit dem deutschen Kennzeichen, wer weiß, was passiert“, sagt sie. „Quatsch“, sagt Dieter. „Das einzige, was passiert: Ihr steht im Stau. Wegen der Demos. Fahrt mal mit der Bahn!“

Wir parken den Wagen am Stadtrand in Kifisia und steigen in die U-Bahn gen Innenstadt. Die Fahrt ist nicht teuer, jedenfalls im Vergleich zu Hamburg: Für 1,20 Euro kann man 75 Minuten fahren, so weit man will (Kinder 60 Cent). Unser Tag für die klassische Bildung ist der wohl heißeste des Jahrzehnts. Als wir das historische Olympiastadion, den Wachwechsel der Evzonen (der früheren spartanischen Elitesoldaten) vor dem Parlament am Syntagma-Platz ansehen und natürlich auch die Akropolis hochkraxeln, zusammen mit Tausenden anderen Krisentouristen aus Japan, Brasilien, Italien, Serbien, China und Südamerika, da schätzt jemand die Temperatur auf 50 Grad. Und niemand widerspricht.

Hitze auf der Akropolis
Hitze auf der Akropolis

Die Hitze ist schlimmer als alles andere, glaubt man plötzlich. Das liegt vielleicht auch daran, dass einen die Krise auf den Touristenpfaden nicht überall anspringt. Aber sie ist trotzdem da, wenn man genau hinsieht. Demütig hingekauerte Bettler mit Pappschildern (mehr als am Jungfernstieg), Trauben von jungen Leuten, die am hellichten Arbeitstag vor Kiosken herumstehen und warten, dass der Tag vergeht. Zahnlose Frauen mit irren Augen, die einen an Fahrkartenautomaten aggressiv anbetteln und mehr nach Crack als nach Hunger aussehen, aber Crack ist ja auch kein Zeichen für Glück und Wohlstand. Die besseren Restaurants auf unserem Weg durch Athen sind an diesem Julitag leer, die Pita-für-einen-Euro-Läden voll. Wir testen zum ersten Mal einen Geldautomaten: Er spuckt ohne zu murren die 400 Euro aus, die wir verlangt haben. Ich halte die Fünfziger gegen die Sonne. Sie scheinen echt zu sein.

„Deutschland will uns und andere Länder zu Kolonien machen“

Als wir schließlich in ein klimatisiertes Taxi steigen, erklärt uns der gut gelaunte Fahrer für verrückt: „Ich würde bei dieser Temperatur auch nicht für Geld auf die Akropolis steigen“, sagt er. So, so, denke ich. Passt ja, dass er Tsipras gewählt und gegen Reformen gestimmt hat. „Aber jetzt macht Tsipras, was alle gemacht hätten. Dann hätten wir uns das auch sparen können“, sagt er. „Das hat bloß den Tourismus kaputt gemacht. Vor einem Jahr um diese Zeit hätte ich 24 Stunden am Tag fahren können und hab nur mal ein Stündchen unterm Baum Pause gemacht. Es war so voll in der Stadt. Und heute? Nichts los. Nicht am Flughafen, nicht in Piräus. Schlimm.“

Das hören wir immer wieder, auch später auf dem Peloponnes und auf der Fähre rüber nach Zakynthos und auf der Insel selbst: Man bekommt fast den Eindruck, hier hätten alle Tsipras gewählt und jetzt versteht keiner mehr, warum der tut, was er verhindern wollte und was dann bitte das Referendum sollte. Und trotzdem scheint ihm kaum jemand richtig böse zu sein. Denn die meisten sind offenbar überzeugt: Diese Regierung klaut wenigstens nicht – das sei der größte Unterschied zu all den Regierungen zuvor. Und außerdem: Was soll der arme Tsipras denn auch machen gegen den fiesen Schaupple, der sich Europa untertan machen will. Das ist wirklich eine taktische Meisterleistung von Tsipras, die seine Chancen bei den jetzt anberaumten Neuwahlen vermutlich nicht schmälert: Er tut zwar das Gegenteil von dem, was er versprochen hat, und er setzt Reformen um, gegen die Schröders Agenda 2010 reiner Pipifax war – und trotzdem mögen sie ihn noch.

Das hat er wohl vor allem Märrkell und Schaupple zu verdanken, die, wie es kürzlich der „New Yorker“ und die „Zeit“ konstatierten, offensichtlich nicht in der Lage sind, eine internationale Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, die verständlich macht, warum sie tun, was sie tun. Sie treten nicht als Helfer auf, wie es die USA sogar im gerade befreiten Nazi-Deutschland taten. Sie bringen keine Care-Pakete fürs darbende Freundes-Volk (und setzen im Gegenzug auch Neues durch), nein, sie knallen unentwegt mit der Peitsche und schicken Geld bloß für die (deutschen) Banken, die sie dann aber schließen lassen, damit die Griechen nicht mehr an ihr Erspartes kommen. So wirkt das deutsche Gebaren offenbar auf sehr viele – außer auf die Deutschen selbst.

Titel des Abendblatt-Magazins
Titel des Abendblatt-Magazins

„Deutschland hat ein klares Ziel: Es will Griechenland und einige andere südeuropäische Länder in die Pleite treiben“, sagt Eleftheria Pasparaki, eine Bekannte meiner Frau, die eine kleine Apotheke in der Nähe von Athen betreibt. „Sie wollen uns zu Kolonien machen, um unsere Rohstoffe zu bekommen. Seit Hitler hat sich an den Chromosomen der Deutschen nichts geändert. Aber sie werden enden wie König Midas.“ Der war nach der Legende bekanntlich so gierig, dass er sich wünschte, dass sich alles, das er berühre, in Gold verwandle – bis er merkte, dass das auch mit Brot und Wasser oder Wein passierte und man Gold weder essen noch trinken kann. Das mag eine radikale und nicht repräsentative Sicht sein – die grundsätzliche Haltung gegenüber Deutschland aber begegnet uns überall. Genauso wie die Abneigung gegen die früheren griechischen Regierungen, die von den Schwesterparteien der CDU und der SPD geführt wurden, und die Vetternwirtschaft immer mehr ausgeweitet haben.

„Hey, Leute, die kommen aus dem Land, wo sie unser Blut trinken“, ruft der Chefkellner in einem der besseren Restaurants an der Südküste von Zakynthos augenzwinkernd seinen Kollegen zu, nachdem er sich mit meiner Frau auf Griechisch unterhalten hat. Und sagt später zum Abschied: „Kali nichta, die 23 Prozent Mehrwertsteuer auf der Rechnung, habt Ihr gesehen, oder? Extra für Euch, so wie Schaupple es verlangt.“ Unser jüngerer Sohn findet das nicht witzig: „Solche Sprüche gegen uns sind scheiße“, sagt er. „War doch nur Spaß“, sagt meine Frau. Und ich sage: „Scheiße sagt man nicht.“

Die Eurozone ist ein windschiefes Haus, von schlechten Architekten gebaut.

Bei all dem kommt es mir irgendwann so vor, als sei diese Eurozone ein windschiefes Haus, in dem sich dauernd alle den Kopf an den zu niedrigen Decken und Türrahmen stoßen – um sich dann gegenseitig die Schuld für ihre Schmerzen zu geben. Dabei ist das Haus einfach nur schlecht konstruiert und gehört abgerissen und neu gebaut. Schuld sind nicht die Bewohner, sondern die Architekten. So in etwa stellt es ja auch der Historiker Heinrich August Winkler in seinem Spiegel-Essay dar, das Anfang August während unseres Urlaubs erscheint: der Euro als eine gegen die ökonomische Logik gewollte, politische Währung, die sich aus der deutschen Wiedervereinigung ergibt – und die Völker Europas nicht näher zusammengeführt, sondern zu ihrer Entfremdung beigetragen hat.

Es gehe bei dem ganzen Gezerre in der EU sowieso nicht ums Geld, sagt ein früherer griechischer Marinesoldat, der jetzt einen Kunstrasensportplatz im Touristenmoloch Laganas auf Zakynthos vermietet, auf dem unsere Jungs an einem Augustabend ihre neuesten Tricks trainieren. „Die Deutschen wollen einfach, dass wir ihre Mentalität annehmen.“

Auf den Inseln hier gehe es den meisten aber noch gut – und nicht etwa, weil Zakynthos mal kurz dafür berühmt war, dass hier Hunderte Sehende eine staatliche Blindenrente bezogen. Er meint die Engländer. „Die werden immer kommen. Sie spielen am Tag mit hochroten Köpfen in der Mittagshitze Fußball, weil sie abends nicht können. Da müssen sie saufen gehen.“ Die Engländer sind also auch nicht beliebter als wir. Die würden sich zwar aufführen, als sei Zakynthos noch immer ihr Protektorat, sagt der Mann. „Sie trinken nur ihr eigenes Bier und essen ihre eigenen Bohnen. Man muss die nicht mögen. Aber wir leben von ihnen.“ Hunderte Billig-Restaurants, Pubs und Discos und der mit krebsroten Briten überfüllte Strand geben ihm recht: Auch hier lässt sich mit Ballermann-Tourismus noch Geld verdienen.

McDonald’s kann den Briten keine Cheeseburger mehr braten

Aber ganz ungeschoren kommen auch die Insulaner nicht davon. Ein paar Kilometer weiter, in der beschaulicheren Bucht von Kalamaki ist zwar das Wasser klar und grünblau wie eh und je, aber so voll wie sonst um diese Jahreszeit ist es nicht. Vor allem einheimische Touristen seien in diesem Jahr ausgeblieben, sagt der Chef des Strandrestaurants. Die wirkliche Not aber ist dieser Tage ganz woanders zu finden: Auf der rund 700 Kilometer entfernten Insel Kos in der östlichen Ägäis bricht die Versorgung der Flüchtlinge durch den Ansturm von Schutzsuchenden teilweise vollständig zusammen. Auf Zakynthos bekommt man davon nicht mehr mit als in Deutschland. Man sieht es in den Nachrichten. Oder man sieht es gar nicht.

Der Artikel in der Druckausgabe
Der Artikel in der Druckausgabe

Am nächsten Tag gibt es ein furchtbares Gewitter, im „Zante Water Village“ scheuchen sie unsere Söhne aus den Eventbecken. Irgendwo schlägt der Blitz so heftig ein, dass für fünf Stunden der Strom auf der ganzen Insel weg ist. Klimaanlagen, Pizzaöfen und Kühlschränke fallen aus, und in Laganas ist es ohne das dauernde Bassgewummer plötzlich ganz still. Jetzt funktionieren die Geldautomaten wirklich nicht mehr, und McDonalds kann den Engländern für einen halben Tag keine Cheeseburger verkaufen. Wenn das keine Krise ist.

Internet gibt es natürlich auch nicht, aber das ist hier sowieso eine Zumutung, auch wenn der Strom nicht weg ist. Finden jedenfalls meine Söhne. Auf der ganzen Insel ist es schwach und schlecht und fällt alle paar Minuten aus. An gepflegtes YouTuben ist nicht zu denken. Das liege an den schlechten Kabeln im Meer, sagen die Leute.

Nicht immer glückt die Auswanderung

Als meine Frau sich einen Zeh verletzt und zum Arzt muss, fährt sie in die Touristenklinik von Laganas. Die ist bestens ausgestattet, und Ärzte und Schwestern erzählen ihr, dass man hier bei den Touristen im Sommer gut verdienen könne – viel besser als in Athen oder anderen Großstädten auf dem Festland. „Aber wenn ich nach Hause fahre, nach Thessaloniki, dann sieht man dort überall Armut und Verfall, ganz anders als hier“, sagt ein Arzt. Nach Deutschland zieht es aber offenbar niemanden. Dort werde im Gesundheitswesen so schlecht bezahlt, dass es sich nicht lohne auszuwandern.

In den Großstädten ist die medizinische Versorgung weniger gut. Es gibt viele Berichte über das Fehlen von Medikamenten und extrem lange Wartezeiten. Diese Probleme bekam kürzlich auch Jorgos Gourasis zu spüren. Der Mann einer Jugendfreundin meiner Frau aus Athen erkrankte an einem bösartigen Tumor hinter dem Auge. Die Diagnose wurde zwar schnell gestellt, und es war klar, dass die nötige Operation per Laser nur in der Schweiz durchgeführt werden konnte. Die Krankenkasse aber zögerte die Bewilligung immer weiter hinaus, dann war nicht mehr klar, wer zuständig sei.

Gourasis solle sich gedulden, das würden alle tun, hieß es. Wie viele der geduldigen Tumorpatienten denn noch am Leben seien, fragte seine Frau zurück. Erst nach viel Druck und Drohungen wurden die Mittel bewilligt, sodass ihr Mann doch noch operiert werden konnte. Weggehen ist, anders als beiden Ärzten von Zakynthos, angesichts einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent für immer mehr Griechen eine Option. Auch wenn der Absprung nicht allen gelingt. Die Kassiererin im Mini-Market erzählt von ihrer Nichte, die vor einem Jahr mit Mann und Tochter nach Köln gegangen sei, „um endlich ein besseres Leben zu führen“. Schnell hätten sie Wohnung und Arbeit gefunden. Vor ein paar Tagen aber sind sie zurückgekommen. „Sie haben am Telefon immer nur geweint“, sagt die Frau. „Das Heimweh war einfach zu stark. Als hätte die alte Generation, die in den 60er und 70er Jahre nach Deutschland ging, kein Heimweh gehabt.“

Dann spendiert Griechenland den Jungs ein Flutlicht-Spiel

Die Kinder in den Touristenorten bemerken von der Krise derweil nichts. Eis gibt es immer genug, und im Hafendorf Keri spielen sie jeden Abend Fußball. Völkerverständigung auf einem umzäunten Kunstrasenplatz direkt am Strand: Die Griechen, Engländer, Österreicher, Spanier, Sachsen und Hamburger gehen hart zur Sache, ganz ohne Ansehen der Nation, sie fluchen und flachsen in allen Weltsprachen, und wenn die Sonne zwischen den Segelschiffen versackt, die weit draußen auf dem glatten, bewegungsfaulen Meer ankern, dann macht der Mann von der Gemeinde einfach das Flutlicht an, auf Kosten Griechenlands, und die Eltern müssen noch eine Runde drehen und noch eine Stunde aufs Meer schauen.

Auf unserer Rückfahrt kommen wir auf der Fähre mit einer Rentnerin ins Gespräch. Ihr Neffe sei nach Deutschland gegangen und habe einen guten Job gefunden, erzählt sie. „Meine Tochter sollte vielleicht auch gehen, noch ist sie hier und verdient als Buchhalterin im Monat 480 Euro bei Vollzeit“, sagt sie. „Ihr Mann ist arbeitslos, und sie hat ein Kind. Bei einem Mindestlohn von drei Euro reicht ein Job nicht, um eine Familie durchzubringen.“ Am Ende lächelt sie, drückt uns fest die Hände und wünscht freundlich eine gute Rückreise nach Deutschland.

Vielleicht ist es bloß eine verkitschte Selbsttäuschung, aber mir ist in diesem Urlaub wieder aufgefallen, wie freundlich die Menschen in Griechenland sind und wie viel hier gelacht wird. Trotz Arbeitslosigkeit, Hitze, schlechtem Internet, Stromausfällen und alledem. Der kleine, bärtige Mann in der U-Bahn zwischen Kifisia und der Athener Innenstadt hat all das zu einem Spiel gemacht. Obwohl die Bahn beim Fahren ständig hin und her wackelt, abbremst und ruckartig beschleunigt, hält er sich nicht fest. Er steht frei in der Mitte des Wagens, zwischen den Türen wie ein Surfer auf seinem Brett, und gleicht alle Schläge, die da kommen, durch die geschickte Verlagerung seines Körpergewichts aus, ohne jemals die Haltestange zu ergreifen. Jedes Mal, wenn er ein starkes Rucken oder Bremsen abgefangen hat, ballt er die Fäuste vor seine Brust, wie es Sieger tun. „Mich wirft nichts um“, sagen seine Augen. Und er lacht.

(Mitarbeit: Sabine Aurich)
Erschienen am 22. August 2015 im Magazin des Hamburger Abendblattes

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