Wie der Hamburger Senat um die richtige Corona-Strategie ringt

Natürlich liegen die Nerven dieser Tage bei dem einen oder der anderen im Hamburger Rathaus auch mal blank. Schließlich arbeiten viele der Coronakrisenmanagerseit mehr als einem Monat fast ohne Pause durch – denn es geht bekanntlich um „Leben und Tod für uns alle“, wie der sonst so nüchterne Vizekanzler Olaf Scholz kürzlich feststellte. Da kann es schon mal vorkommen, dass es in den Telefonkonferenzen der staatlichen Führungskräfte lauter wird – sowie zuletzt in der täglichen Schalte der Hamburger Staatsräte.

Die Tagesabläufe immerhin sind mittlerweile klar strukturiert. Immer mittags um 12 Uhr berät sich Jan Pörksen, Chef der Hamburger Senatskanzlei, telefonisch mit Kanzleramtschef Helge Braun und den Chefs der Staatskanzleien der anderen Bundesländer. Danach, meist gegen halb zwei, folgt die tägliche Runde der Hamburger Staatsräte aus allen Behörden.

Reibereien in Telefonkonferenzen um Masken und offene Fragen

Und da gab es in den Telefonkonferenzen zuletzt auch mal Reibereien. Vordergründig ging es darum, dass der Staatsrat der kleinen, aber am stärksten geforderten Gesundheitsbehörde, Matthias Gruhl, laut Teilnehmern wohl nicht immer ad hoc alle Fragen zu Zahlen oder zu Lieferungen der dringend benötigten Schutzmasken beantworten konnte. Und darum, dass um die Verteilung der knappen Masken zwischen den Behörden hart gerungen wird.

In Wahrheit aber hängen manche Spannungen wohl auch mit persönlichen Aversionen zusammen. Und diese haben ihre Wurzeln auch in unterschiedlichen Positionen zur alles entscheidenden Grundsatzfrage, als wie gefährlich diese Epidemie denn nun einzuschätzen sei. Staatsrat Gruhl, selbst Mediziner, soll dabei von Beginn an die Meinung vertreten haben, es handle sich bei der durch das Virus hervorgerufenen Erkrankung Covid-19 schlimmstenfalls um eine Art „Grippchen“. Kürzlich veröffentlichte Gruhl mit anderen Experten ein Thesenpapier, in dem behauptet wird, bis zu 80 Prozent der Infektionen verliefen ohne Symptome, und Abstandhalten wirke paradox, weil es die Immunisierung der Bevölkerung verlangsame und so eine zweite Welle auslösen könne.

Muss man kürzere Lebenszeit für Alte und Kranke hinnehmen?

Damit bewegt sich Gruhl wohl auf der Linie derjenigen, die – den Bildern aus Italien oder New York zum Trotz – betonen, an Covid-19 stürben fast nur Menschen, die ohnedies schwer erkrankt seien und auch ohne Virus nur noch wenige Monate zu leben gehabt hätten. So hat es der UKE-Rechtsmediziner Klaus Püschel zuletzt stets dargestellt. Folgte man dieser Lesart, könnte man radikale Maßnahmen wie Kontaktsperren, Schul- und Ladenschließungen für völlig überzogen halten – jedenfalls, wenn man ein paar Lebensmonate mehr oder weniger für Tausende Ältere und Kranke für eine zu vernachlässigende Größe hält.

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Zu Beginn der Krise hatte es für eine Weile so ausgesehen, als wolle auch SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher der Gruhl-Linie folgen – und wie etwa Schweden nicht zu viele Einschränkungen einführen und darauf setzen, dass genug Menschen sich infizieren, um die Immunität der Bevölkerung zu steigern. So hatte Tschentscher für Irritationen gesorgt, als er in der Landespressekonferenz Mitte März sagte, dass es „notwendig“ sei, „viele Erkrankungsfälle“ zu haben.

Bürgermeister irritierte manchen mit „Gaga-Forderung“

„Das wirksamste Mittel gegen das Virus ist unser Immunsystem selbst“, so Tschentscher. „Dieses hat aber bisher keine Gelegenheit gehabt, gegen dieses Virus zu wirken und sich darauf einzustellen. Da wir keine Impfung haben, können wir auch nicht nachhelfen, wie wir das sonst tun bei Grippe-Epidemien und Ähnlichem. Und deswegen ist eigentlich die wichtigste Maßnahme jetzt, dass wir unseren Immunsystemen der Bürgerinnen und Bürger in Hamburg die Gelegenheit geben, sich sozusagen aufzustellen gegen das Virus.“

Das hörte sich für manchen Bösgläubigen seinerzeit fast wie eine Einladung zur Coronaparty an: schnell das Immunsystem in den Kampf schicken, und dann ist Ruhe? Tschentschers Aussagen wurden in Medien außerhalb Hamburgs als gebrandmarkt oder als irritierend für eine Zeit angesehen, in der man die Menschen doch gerade zum Abstandhalten auffordere.

Der Bürgermeister habe sich angesichts solcher Vorwürfe falsch verstanden gefühlt, heißt es. Wer sich aber das Video der Pressekonferenz ansieht, stellt fest, dass Tschentscher zu diesem Thema unmissverständlich und zusammenhängend seine Position dargelegt hat.

Favorisierte Tschentscher erst das „schwedische Modell“?

Auch aus Regierungskreisen heißt es, Tschentscher habe womöglich zu Beginn der Krise eine Art schwedisches Modell favorisiert: so wenige Einschränkungen wie möglich, solange das Gesundheitssystem nicht überfordert wird.

Dazu würde es passen, dass der Bürgermeister am letzten Wochenende der Skiferien Mitte März die Clubs und Kneipen in Hamburg noch nicht schließen ließ – zum Unmut der Grünen und anders als es Berlin handhabte, das am selben Wochenende die Clubs von der Polizei verrammeln ließ. In Hamburg dagegen konnten die vermutlich oftmals infizierten Ferienrückkehrer noch Wiedersehen in der Schanze und auf dem Kiez feiern.

Auch bei der Definition seiner Coronatoten geht Hamburg einen Sonderweg. Hier legt Gerichtsmediziner Püschel nach nicht näher bekannten Kriterien fest, ob Infizierte tatsächlich am neuen Coronavirus oder an anderen Erkrankungen gestorben seien. Das führt dazu, dass Hamburg weniger Tote zählt als das Robert-Koch-Institut. Charité-Virologe Christian Drosten hat dieses Vorgehen jetzt als „irreführend“ bezeichnet.

Er glaube nicht, dass man solche Schlüsse ziehen könne. Es gehe wohl darum zu sagen, „in Wirklichkeit ist das alles gar nicht so schlimm“. Er finde es „total gefährlich, diese Verbindung zu machen“.

Ansatz der radikalen Eindämmung hat Nebenwirkungen

So oder so: Bürgermeister Tschentscher selbst ist wohl von der Idee abgerückt, die Immunsysteme vieler Bürger sollten sich mal mit dem Virus bekannt machen. Falls das kein Missverständnis war, haben ihn womöglich das negative Echo oder die Beratungen mit Bundes- und Länderregierungen umdenken lassen.

Mittlerweile bewegt sich der Senatschef, wie die gesamte deutsche Politik, auf einer Art Mittelweg zwischen denen, die auf das Erreichen einer „Herdenimmunität“ durch ein kontrolliertes Infektionsgeschehen setzen – und denjenigen, die die Infektion so radikal wie nur möglich eindämmen wollen, weil sie das Virus für tückisch und es zugleich für unethisch halten, den womöglich vorzeitigen Tod von Zehntausenden Älteren und Vorerkrankten in Kauf zu nehmen.

Der Ansatz der radikalen Eindämmung allerdings hat bekanntlich die Nebenwirkung, dass man die Wirtschaft weiter abwürgt – und so massenhaft ökonomisches, psychisches und anderes Leid erzeugt.

Fragt man den Senat heute, was seine zentrale Coronastrategie sei, antwortet Tschentscher-Intimus und Senatskanzlei-Chef Pörksen: „Die ist eindeutig: Unser Gesundheitssystem darf nicht überlastet werden. Entscheidend sind die Intensivkapazitäten.“ Diese seien der Faktor mit den wenigsten Unsicherheiten, weil es keine Dunkelziffer gebe. „Trotz der aktuell guten Lage in Hamburg ist Entspannung nicht angesagt“, betont Pörksen aber auch. „Wenn wir nicht aufpassen, können wir schnell an oder über die Kapazitätsgrenzen geraten. Davor müssen wir uns hüten.“

Leopoldina-Gutachten: „ein enttäuschender Besinnungsaufsatz“

Einfach ist die Lage für die Politik auch deshalb nicht, weil es wenig medizinische Klarheit gibt. „In vielen Punkten ist die wissenschaftliche Lage nicht eindeutig“, so Pörksen. „Es gibt zum Beispiel unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie stark Kinder und Jugendliche das Virus übertragen. Politik muss trotzdem Entscheidungen fällen, und dabei geht es darum, diese gut abzuwägen und sich bundesweit gut abzustimmen.“

Die so sehnsüchtig erwartete Stellungnahme der Leopoldina habe auch wenig geholfen. „Das Gutachten hat uns eher enttäuscht“, so Pörksen. „Darin werden zentrale Fragen nicht beantwortet. Der Text liest sich eher wie ein Besinnungsaufsatz.“ Hamburg seien bei den Verhandlungen mit dem Bund jetzt vor allem zwei Dinge wichtig gewesen: der Ausbau der Intensivkapazitäten in den Kliniken und ihre Beobachtung als zentraler Indikator der Entwicklung – und „ein Signal zur baldigen Schulöffnung, vor allem im Grundschulbereich“. 

Dass es bei den schwierigen Diskussionen auf der Arbeitsebene in diesen Zeiten auch mal zur Sache geht, gehört wohl dazu. „Wir arbeiten alle seit fünf Wochen im Grunde rund um die Uhr“, sagt der Chef des Senatskanzlei. „Da kann es in Fachdiskussionen in den Telefonschalten schon sein, dass der eine oder andere mal kurz genervt ist. Aber in der Sache ist die Zusammenarbeit sehr gut und hochprofessionell.“

Erschienen am 18. April 2020 als Kolumne „Die Woche im Rathaus“ im „Hamburger Abendblatt“.

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