Die schmerzhaften Lehren aus der Pandemie: Was sich jetzt ändern muss

Corona zeigt brutal die verdrängten Schwächen Deutschlands auf. (Hamburger) Forscher, Wirtschaftsvertreter und Politiker fordern Konsequenzen. Meine Kolumne „Die Woche im Rathaus“ aus dem „Hamburger Abendblatt“

Da hat er sich dann doch provozieren lassen. Obwohl Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher als kontrollierter und zurückhaltender Politiker gilt, ließ er am Donnerstag dieser Woche kurz erkennen, wie sehr es nach einem Jahr Pandemie in ihm brodelt. „Wenn der Bund was übernimmt, geht es schief“, polterte der SPD-Politiker bei der Pressekonferenz nach der Senatssitzung zu den neuen Corona-Beschlüssen. „Das ist doch das, was wir gesehen haben bei der Impfstoffbesorgung.“

Auslöser des Mini-Wutanfalls, den Tschentscher auch gleich wieder bereute, war die Abendblatt-Frage, ob in der Corona-Krise womöglich auch der Föderalismus zu Problemen führe. Das wollte der Senatschef nicht auf sich und den Ländern sitzen lassen. Was diese zu verantworten hätten, funktioniere doch in der Regel ganz gut, so seine Analyse.

Tschentschers Ausbruch zeigte sinnbildlich, wie viel Druck mittlerweile auf dem Kessel ist. Das hat vor allem damit zu tun, dass Deutschland bzw. seine politische Elite durch ihr verstörend unprofessionelles Agieren mittlerweile nicht nur international, sondern auch bei den eigenen Bürgern viel Ansehen verspielt hat. Während in den USA mittlerweile zwei Millionen Menschen pro Tag geimpft werden und manche Staaten seit Monaten Schnelltests zur Eindämmung der Pandemie nutzen, hakt es in Deutschland an allen Ecken und Enden.

Es gibt zu wenig Impfstoff, die Verteilung des knappen Gutes funktioniert – vorsichtig gesagt – nur suboptimal, Wirtschaftshilfen fließen zu langsam, es gibt noch immer keine kohärente Teststrategie, die digitale Ausstattung vieler Schulen hat sich als mittelalterlich erwiesen – und die Regierenden kommunizieren so wirr und widersprüchlich, dass es den Menschen immer schwerer fällt, die monatlich nach Launen der Landesfürsten wechselnden Inzidenzgrenzwerte ernst zu nehmen. Immerhin dürften mit dem hilflos wirkenden Agieren der deutschen Politik zwei Vorurteile der Vergangenheit angehören: Die Deutschen seien pünktlich und könnten gut organisieren.

Nicht nur bricht durch all dies die Zustimmung zur Regierungspolitik immer weiter ein. Selbst für ihre Zurückhaltung bekannte Beobachter verlieren zusehends die Contenance. Dass der zunächst beeindruckende Gemeinsinn bei der Krisenbewältigung immer weiter bröckele, habe „nicht nur mit der langen Dauer der Pandemie zu tun, sondern auch mit offensichtlichem Organisationsversagen von Regierungen und Behörden“, sagt etwa der frühere Grünen-Senator und heutige Vorsitzende der Patriotischen Gesellschaft, Willfried Maier. „Schleppender Verlauf der Impfkampagne, zögernde Schritte zu einer Teststrategie erst nach einem Jahr, unplausibler Regelwirrwarr. Da gehen nicht nur Menschenleben verloren, sondern auch politisches Vertrauen.“

Was aber sind die tieferen Ursachen dafür, dass Deutschland plötzlich so schlecht dasteht – und welche Lehren sind nach einem Jahr Pandemie zu ziehen? Bei diesen Fragen geht es keinesfalls nur um eine bessere Bewältigung möglicher künftiger Pandemien, sondern auch um Deutschlands Selbstverständnis und seine Rolle in der Welt. Denn die Pandemie hat brutal deutlich gemacht, dass dieses Land etwa in Sachen Digitalisierung der Verwaltung mit seinem Faxwesen weltweit höchstens noch Mittelmaß ist – und dass seine In­stitutionen extrem schwerfällig agieren.

„Die deutsche Verwaltung arbeitet sehr legalistisch. Da steht die Rechtsanwendung vor der Aufgabenerledigung“, konstatiert der Hamburger Politikwissenschaftler Prof. Elmar Wiesendahl. „Es wird weniger daran gearbeitet, ein Problem zu lösen, als daran, das kleine Karo der Rechtsanwendung detailliert abzuarbeiten.“ Für Krisen brauche man andere Regeln, da müssten der Verwaltung „Beine gemacht“ werden, findet Wiesendahl. „Wir brauchen rechtlich abgesicherte Ausnahmeregeln für Ausnahmesituationen. Auch das Kommissionsunwesen muss enden: Politik, die alles Mögliche in Arbeitskreise verlagert, verschleppt lebenswichtige Entscheidungen und wälzt Verantwortung ab. Sie entzieht sich hier auch in der Corona-Krise oftmals ihrer Entscheidungspflicht.“

Schlechte Infrastruktur ist das Problem, nicht Datenschutz

Für den Hamburger Wirtschaftsinformatiker Prof. Markus Nüttgens hat Deutschland in den letzten zehn bis 15 Jahren „auf Wolke 7“ gelebt – zu seinem eigenen Schaden. Man habe den Eindruck gehabt, alles laufe gut, deswegen habe niemand die deutsche „Postkutschen-Organisation“ verändern wollen, denn schließlich brächten Veränderungen ja immer auch Ärger. „Wir haben letztlich auch die jüngere Generation gelehrt, dass Aussitzen und Abwarten oftmals die bessere Lösung für die Entscheider ist“, so Nüttgens. „Und wir haben uns zu wenig mit den Innovationen in der Breite beschäftigt, wie kritischer Infrastruktur oder digitaler Bildung. Andere Themen mit deutlich engeren Zielgruppen sind uns wichtiger bis hin zur ,politisch korrekten‘ Sprache. Wir haben uns nicht um wirklich systemrelevante Fragen gekümmert. Corona war nun der letzte Schritt in einer Kettenreaktion wie bei einer Kernschmelze, die die Schwächen gnadenlos offengelegt hat.“

Anders als oft behauptet, sei bei der Digitalisierung nicht der Datenschutz das Problem. Das sei eine „Schutzbehauptung“, so Nüttgens. „Das Hauptproblem ist → weiterlesen

Verzocken sich Olaf Scholz und die SPD mit ihrem Corona-Wahlkampf?

Man soll ja nicht Scheiße sagen, aber nun hat es sogar der Vizekanzler getan. Gleich zweimal. Ausgerechnet Olaf Scholz. Der frühere Hamburger Bürgermeister, bei dem die für Emotionen zuständigen Hirnregionen manchem schon seit Jahrzehnten als abgeschaltet galten, soll mal so richtig hingelangt haben.

Das mit der Impfbeschaffung durch die EU sei „richtig scheiße gelaufen“ habe der 62-Jährige im Corona-Kabinett gesagt, berichtete in dieser Woche die „Bild“-Zeitung“. Scholz habe außerdem deutlich gemacht, dass er „keinen Bock“ darauf habe „dass sich der Scheiß jetzt wiederholt“ – und zwar bei der Impfkampagne in Deutschland. Danach soll er sich noch wenig schmeichelhaft über EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ausgelassen haben.

Nun kann man diese neue Lust des Genossen Kanzlerkandidaten an der Fäkalsprache zwar als „Wutanfall“ deuten, wie es „Bild“ tat. Womöglich war Scholz ja auch wirklich ein bisschen sauer. Wahrscheinlicher aber ist etwas anderes: Der Frontmann der aktuellen 15-Prozent-Partei SPD ist fest entschlossen, Corona zum Thema seines bislang aussichtslosen Kampfs ums Kanzleramt zu machen. Deswegen spielt er nicht nur in Sitzungen den Scheiß-Wütenden – er lässt es auch wortgetreu die Boulevardmedien wissen. So wie er es bereits bei dem Fragenkatalog zur Impfbeschaffung getan hat, den er seinem Kabinettskollegen, CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn, via TV-Nachrichten präsentierte.

Dass es in der SPD offenbar eine klare, bundesweite Absprache gibt, in Sachen Corona nun die Union zu attackieren, zeigte sich zuletzt auch in Hamburg. So machte SPD-Finanzsenator Andreas Dressel immer wieder CDU-Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier öffentlich für Probleme bei der Auszahlung der Corona-Hilfen verantwortlich. In der vergangenen Woche postete er sogar ein Bildchen, das einen schnarchenden Altmaier mit Schlafmütze zeigte und dazu den Spruch: „Bitte bei Minister Altmaier melden, wenn die Auszahlung der Novemberhilfen verschlafen wurde.“ Dazu die Telefonnummer der Corona-Hotline des Ministeriums.

Die Kolumne im Abendblatt vom 6.2.2021

Selbst SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher, sonst die stocknüchterne Sachlichkeit in Person, attackierte via Twitter ungewohnt aufgebracht CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Gerade teilt das Bundeskanzleramt mit, dass jetzt auch die zugesagten Lieferungen der Moderna-Impfstoffe reduziert werden“, schrieb Tschentscher am vergangenen Wochenende in dem sozialen Netzwerk und fügte das Bild eines achselzuckenden Mannes hinzu. „Wie soll man da die Impfungen planen?“ Auch andere führende Hamburger Genossen monierten die schleppende Lieferung des heiß begehrten Impfstoffs – und verorteten die Verantwortung dafür bei drei CDU-Politikern: Bundeskanzlerin Merkel, Gesundheitsminister Spahn und EU-Chefin von der Leyen.

Für den Hamburger Politikwissenschaftler Prof. Elmar Wiesendahl ist das alles kein Zufall und auch keine echte Empörung, sondern der bundesweit koordinierte Auftakt der SPD in das Superwahljahr. „Scholz steckt im Dilemma. Die SPD ist festgenagelt auf 15 Prozent, auch die Nominierung zum Kanzlerkandidaten hat keinerlei Bewegung gebracht“, so Wiesendahl. „Deswegen muss er in den Angriffsmodus schalten. Ohne Attacken zu fahren, kommt man aus dieser Lage nicht heraus.“

Das Auftreten der SPD sei dabei → weiterlesen

Wie die Corona-Verharmloser uns ins Desaster geführt haben – und was wir jetzt tun sollten

Mit meinem sehr geschätzten Abendblatt-Kollegen Matthias Iken habe ich in einem Pro und Kontra in der Zeitung über die Frage diskutiert, ob wir angesichts nun sinkender Inzidenzen schnell raus müssen aus dem Lockdown – oder ob wir auch angesichts der Mutationen vorsichtiger sein und erst auf deutlich niedrigere Inzidenzen warten und dann womöglich eine No-Covid-Strategie mit grünen Zonen bei Nullerinzidenz verfolgen sollten. Ich habe mich in meinem Beitrag dabei auch mit dem in den vergangenen Monaten leider viel zu großem Einfluss der Corona-Verharmloser auseinandergesetzt – und dessen fatalen Folgen. Hier mein Kontra-Beitrag aus dem Abendblatt.

Nein, ich kann es nicht mehr hören. Was geht in den Köpfen von Menschen vor, frage ich mich, die monatelang das Falsche behauptet haben, und jetzt, wo ihre Irrtümer offen zutage liegen, immer noch denselben gefährlichen Unsinn verbreiten? Nein, ich meine nicht meinen geschätzten Kollegen. Ich meine die Gruppe der Verharmloser um eine Handvoll penetrant falsch liegender wissenschaftlicher Außenseiter, deren zu großer Einfluss mit dazu geführt hat, dass wir 55.000 Tote in Deutschland zu beklagen haben, dass Schulen, Theater, Restaurants über Monate geschlossenen werden mussten.

Corona sei nicht schlimmer als eine Grippe, haben sie behauptet. Die Sterblichkeit steige nicht, Kinder und Jugendliche steckten sich kaum an, und in Schulen seien Abstand und Maske unnötig. Schweden sei mit seinem freundlichen Umgang mit tödlichen Viren ein Vorbild. Es werde keine zweite Welle geben. Es stürben vor allem Alte – soweit ging der Zynismus bei manchen – daher sei ein hartes Vorgehen gegen das Virus nicht verhältnismäßig.

Das alles war falsch. Mittlerweile ist klar, was seriöse Wissenschaftler lange angenommen haben: → weiterlesen

Die Kultusminister haben in der Pandemie dreifach versagt

„Ehr­lich ge­sagt, hät­te ich es schon ohne un­se­re Vi­rus­last­stu­die nicht für mög­lich ge­hal­ten, dass Kin­der ver­schont blei­ben von Sars-CoV-2. Rein bio­lo­gisch be­trach­tet, än­dert sich die Schleim­haut im Na­sen-Ra­chen-Raum nicht so stark beim Her­an­wach­sen. Also müs­sen Kin­der auch in­fi­ziert – und in­fek­ti­ös sein. Dass dar­an so grund­le­gen­de Zwei­fel auf­kom­men konn­ten, war mir ein Rät­sel und ist es bis heu­te. (…) Aber dann wur­de die In­fek­tiö­si­tät von Kin­dern so lan­ge ne­giert und nichts ge­macht, kei­ne Ent­schei­dung ge­trof­fen über so vie­le Mo­na­te, über den Som­mer. Das war für mich schon sehr, sehr er­staun­lich.“
(Virologe Christian Drosten im aktuellen SPIEGEL-Gespräch)

Das lesenswerte Drosten-Interview im neuen SPIEGEL untermauert einmal mehr, dass die deutschen Kultusminister es ganz schlecht gemacht haben in der Pandemie: Statt frühzeitig eine halbwegs sichere Beschulung zu organisieren, haben sie gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und gegen alle Empfehlungen (etwa des RKI) monatelang Kinder und Jugendliche ohne Abstand und Masken in vollen Räumen zusammengepfercht und meinten, ab und zu lüften reiche gegen das Virus, Kinder würde ja eh kaum krank.

Ausriss aus dem lesenswerten SPIEGEL-Interview mit Christian Drosten

Damit tragen sie erstens mit Verantwortung dafür, dass die Zahlen (mittelbar auch die Todeszahlen) insgesamt extrem gestiegen sind – denn Kinder und Jugendliche stecken natürlich Eltern und Geschwister oder Lehrer an wie alle anderen. Sie haben zweitens → weiterlesen

Das Corona-Versagen der Hamburger Schulpolitik

Die Hamburger Schulbehörde von Senator Ties Rabe (SPD) musste zwei Tage vor dem Lockdown am Montag einräumen, dass Digitalunterricht mit Videostreaming aus Klassenräumen nicht ohne weiteres möglich ist. Die Übertragung kollidiere mit dem Kameraüberwachungsverbot des Schulgesetzes. Auf die Frage, warum der Behörde das erst jetzt auffalle und man dieses Problem zehn Monate nach Pandemiebeginn nicht längst mit einer Klarstellung im Gesetz gelöst habe, hieß es aus der Rabe-Behörde, es handle sich um „rechtliches Neuland“. Hierzu und zur gesamten Hamburger Schulpolitik in der Coronakrise mein Leitartikel aus dem „Hamburger Abendblatt“.

Wer dieser Tage Gutes über Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) sagen will, der nennt ihn „standhaft“. Standhaft halte er gegen Bedenken von Epidemiologen und Kanzlerin Schulen offen, heißt es bisweilen. Er verteidige das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung und setze sich so besonders für Familien aus schwierigen Verhältnissen ein, deren Nachwuchs zu Hause nicht mit viel Förderung rechnen könne. Das kann man so sehen – und es ist sicher eine Hälfte der Wahrheit. Es gibt aber auch eine zweite.

Denn genauso standhaft hat Rabe monatelang die längst belegte Realität geleugnet, dass ältere Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Statt Schulen pandemiesicher zu gestalten, hat er so getan, als gebe es hier keine Infektionen. Motto: Wir machen weiter wie immer. In voller Klassenstärke, ohne Abstand, lange auch ohne Masken – Anreise in vollen Bussen. Ergebnis: An Heinrich-Hertz-Schule, Ida Ehre Schule und Schule auf der Veddel gab es in Hamburg drei der deutschlandweit größten Corona-Ausbrüche an Schulen.

Aber auch dies beeindruckte Rabe wenig. Kinder selbst würden ja nur selten schwer krank, hieß es lakonisch. Das Risiko, dass sich Kinder in der Schule infizieren und zu Hause ungewollt Eltern, Geschwister oder Großeltern anstecken, wurde nie thematisiert. Statt sich intelligente und flexible Lösungen zu überlegen und die Krise auch für einen Modernisierungsschub zu nutzen, wurden lieber die Hygieneregeln und Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts stoisch ignoriert. Geschichtslehrer Rabe belehrte die oberste Behörde für den Infektionsschutz sogar noch, ihre Vorgaben für sicheren Unterricht seien „seltsam“. Auch bei schnell steigenden Infektionszahlen weigerte sich der Senator zunächst wochenlang, eine Maskenpflicht für die Mittelstufe einzuführen. Erst im November gab er nach – viel zu spät.

Bei all dem geht es gar nicht um die Frage, ob man Schulen schließen soll – im Gegenteil. Gerade weil die Schulen unbedingt offen bleiben sollten, muss man sie sicherer organisieren. Zum Beispiel, indem man Schüler, die zu Hause nicht gut lernen können, in der Schule unterrichtet – und andere per Livestream von zu Hause zuschaltet. So würde man Gruppen verkleinern. Dafür aber hätte Rabe seit März die technischen und rechtlichen Voraussetzungen schaffen müssen. Das aber hat er nicht getan, wie Erfahrungen mit dem → weiterlesen