Sinn-Index

Mitunter gehören Überraschungen zu den langweiligsten Dingen im Leben. Früher einmal hat mich meine Freundin am Vorabend meines Geburtstags mit fadenscheinigen Begründungen aus der Wohnung geschickt. Als ich nach Mitternacht zurückkehrte, war die Bude voll mit grölenden und meine Bierreserven vernichtenden Menschen, die mich zum Älterwerden beglückwünschen wollten. Beim ersten Mal habe ich mich gefreut. Im zweiten Jahr auch noch ein wenig (diesmal hatte ich zusätzliches Bier besorgt). Irgendwann nach dem fünften Mal ging die Beziehung in die Brüche.

So ähnlich ist es mit dem Ifo-Geschäftsklimaindex. Das ist eine Zahl, die jeden Monat von einem Professor in die Welt gesetzt wird, der einen komischen Bart trägt und Sinn heißt. Sie ergibt sich durch umständliche Berechnungen aus der Befragung von Unternehmern und sagt uns die Zukunft voraus. Das Interessanteste am Sinn-Index ist, dass er uns, obwohl er jeden Monat pünktlich publiziert wird, jedes Mal überrascht. Nicht ein einziges Mal, seit ich die Nachrichten verfolge, hat sich der Ifo-Index so entwickelt, wie es die Fachwelt erwartete. Entweder war er „überraschend gestiegen“, „überraschend stark gestiegen“ oder, wenn sich die Zukunft wieder einmal verdüsterte, „überraschend gefallen“. In dieser Woche überraschte uns der in München arbeitende Sinn durch unerwartetes Umformulieren. Diesmal hieß es schlicht, sein Index sei „deutlicher als von Experten erwartet“ gestiegen. Überraschung!

Ein Experte, das hat Winston Churchill behauptet, sei „ein Mann, der hinterher genau sagen kann, warum seine Prognose nicht gestimmt hat“. Auch in Hamburg haben wir viele Experten, eine ganze Horde von Sinn-Konkurrenten, von Ökonomen, die ihre Arbeit für Wissenschaft halten. Der bekannteste heißt Straubhaar und hat im Februar eine dramatische Geldentwertung vorausgesagt. Seitdem ist die Inflationsrate auf null gesunken. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mich hat das nicht überrascht.

 
Erschienen in der Sonnabend-Kolumne „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE am 27.06.2009. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

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