Sepsis: Warum der zwölfjährige Rory an einem kleinen Kratzer sterben musste

Die tückische Blutvergiftung, die ihn tötete, bringt Millionen Menschen um. Weil Ärzte sie oft spät erkennen. Das sind die Warnzeichen.

Es ist ein schöner New Yorker Frühlingsmittwoch im März, als der zwölf Jahre alte Rory Staunton sich im Sportunterricht nach einem Basketball streckt, dabei stürzt und sich einen Kratzer am Arm zuzieht. Nicht der Rede wert, denkt sein Lehrer und versorgt den Jungen mit Pflaster, die Wunde wird nicht desinfiziert. Vier Tage später ist Rory tot. 

Gestorben an einer Sepsis, einer Blutvergiftung, bei der das Immunsystem nach einer Infektion so stark überreagiert, dass es im schlimmsten Fall den Menschen tötet, den es eigentlich schützen soll. Nur eines kann helfen: die schnelle Gabe von Antibiotika. 

Sepsis: Warum Rory (12) an einem kleinen Kratzer sterben musste

Die Ärzte aber, die Rorys Eltern mit ihrem Sohn nach den ersten schweren Symptomen aufsuchen, erkennen die Killerkrankheit nicht rechtzeitig – bis es für den Jungen zu spät ist. Der Tod von Rory Staunton im Jahr 2012 und ein großer Bericht in der „New York Times“ lösten nicht nur eine landesweite Anteilnahme aus – sie veränderten auch die Arbeit von Kliniken in den USA

2013 führte der Staat New York die nach dem toten Jungen benannten „Rory’s Regulations“ ein, seither gibt es dort präzise Regularien zur Erkennung und Behandlung von Sepsis. Und Rorys Eltern gründeten eine Stiftung zur Bekämpfung der Sepsis

Gesundheit: In Deutschland sterben jährlich bis zu 100.000 Menschen an Sepsis

In Deutschland sterben laut Sepsis-Stiftung mittlerweile mehr Menschen an einer Sepsis als an Herzinfarkten oder Schlaganfällen. Laut Bundesgesundheitsministerium erkranken „mindestens“ 230.000 Menschen jährlich an Sepsis, 85.000 davon sterben. Viele davon könnten gerettet werden, wenn die Krankheit rechtzeitig erkannt würde. 

Die Dunkelziffer ist hoch, weil nicht bei allen Verstorbenen die Sepsis als Ursache erkannt wird. Die Sepsis-Stiftung geht sogar davon aus, dass es jährlich 100.000 Sepsistote in deutschen Kliniken gibt, von denen rund 50.000 überleben könnten, wenn die Sepsis früh genug erkannt und mit Antibiotika behandelt würde. 

Wirklich exakte Zahlen zu Sepsisfällen und Sepsistoten in Deutschland aber gebe es nicht, „weil wir zu fast keinem Bereich in der Medizin in Deutschland Daten haben“, beklagt Dr. Ruth Hecker, Vorstandschefin des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. 

„Der Grund liegt auf der Hand: Die entscheidenden Akteure in der Medizin wollen keine Transparenz, das ist das Problem, da fehlt schlicht der Mut.“ Das sei in anderen Staaten, etwa in Großbritannien, ganz anders, so Hecker. „Dort kennt man die Zahl der Sepsistoten, man weiß wie viele Kinder bei einer Geburt sterben und warum. In Deutschland wissen wir das alles nicht.“

Tod im UKE: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen vier Ärzte 

Das Aktionsbündnis Patientensicherheit kämpfe „seit Jahren um mehr Transparenz in der deutschen Medizin – und allmählich verlieren wir die Geduld“, sagt die Medizinerin. 

„Die deutsche Ärzteschaft hat über 15 Jahre die Digitalisierung eben nicht konstruktiv vorangetrieben, dadurch fehlt es an Daten. Dabei würde uns allen ein transparenteres System helfen. Wir würden Fehler leichter erkennen und könnten aus ihnen lernen, um die Qualität und die Patientensicherheit zu verbessern.“ 

Auch in Deutschland und Hamburg gibt es bis heute immer wieder besonders tragische Sepsisfälle – wie etwa den Tod der jungen Juristin Silja Greuner und ihres ungeborenen Sohnes im UKE im Jahr 2019. Die Ärzte erkannten die Sepsis zunächst nicht, an der die junge Frau erkrankt war. Keine 28 Stunden nach ihrer Aufnahme in die Klinik waren Mutter und Sohn tot. 

Der Witwer Joachim Greuner hat mittlerweile das UKE verklagt. Er und bisher zwei Gutachter sehen gravierende Fehler beim UKE, das Landgericht dürfte bald zum ersten Verhandlungstermin laden. Wie berichtet ermittelt mittlerweile auch die Staatsanwaltschaft Hamburg gegen vier Ärzte, die 2019 an der Behandlung von Silja Greuner beteiligt waren – wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. 

Sepsis: Das sind die Warnzeichen der tödlichen Krankheit

Dem Witwer Joachim Greuner geht es aber nicht allein um Fragen von Schuld und Sühne – er will, wie die Eltern von Rory Staunton, dass weniger Menschen an der tückischen Krankheit sterben müssen, weil Ärzte und Pfleger sie durch bessere Schulung öfter erkennen. Deswegen engagiert sich Greuner mittlerweile auch im Vorstand der Sepsis-Stiftung.

„Die Sepsis ist tückisch, weil es darum geht, sehr schnell zu reagieren und Antibiotika zu geben“, sagt Dr. Sebastian Wirtz, Chefarzt an der Asklepios Klinik Barmbek. „Hier geht es um jede Stunde.“ Die Sepsis zu erkennen, sei jedoch nicht immer ganz einfach, „weil sie manchmal auch von unspezifischen Allgemeinsymptomen verschleiert wird“, so Wirtz. 

„Die drei wichtigsten Symptome, an denen man eine Sepsis erkennen kann, sind niedriger Blutdruck, schnelle Atmung und ein eingeschränktes Bewusstsein. Nach den Sepsisleitlinien gilt dies bei einem systolischen Blutdruck von unter 100 und einer Atemfrequenz von mehr als 22 Atemzügen pro Minute – und einer gewissen Verwirrtheit. Wenn neben diesen drei Faktoren auch noch eine hohe Körpertemperatur hinzukommt, stützt das den Verdacht auf Sepsis weiter.“

Schockierend: 19 von 20 Sepsisfällen von Notärzten nicht erkannt

Während andere Staaten mittlerweile regelmäßige Pflichtschulungen des medizinischen Personals zur Sepsisfrüherkennung gesetzlich festgeschrieben und so die Zahl der Sepsistoten gesenkt haben, gibt es in Deutschland bisher keine solchen zentralen Pflichtvorgaben. Das hat bisweilen fatale Folgen. 

„Nur bei jedem 20. Notfallpatienten, der später mit einer Sepsis diagnostiziert wurde, ist dieser Verdacht auch bereits von den Notärzten oder Rettungssanitätern bei der Einlieferung in die Klinik dokumentiert worden“, sagt Prof. Andreas Weyland, wissenschaftlicher Koordinator der Sepsis-Stiftung. „Das heißt: 19 von 20 Sepsisfällen werden in Deutschland von Notärzten und Notfallsanitätern nicht erkannt.“ Um das zu ändern, müsse das Personal deutlich mehr geschult werden. 

„Brauchen gesetzliche Pflicht zur jährlichen Sepsisschulung von Ärzten und Pflegern“

„Wir brauchen in Deutschland eine gesetzliche Pflicht, das medizinische und pflegende Personal jährlich in der Sepsisfrüherkennung zu schulen und alle Patienten in der Notaufnahme systematisch auf Sepsis zu screenen“, fordert auch Dr. Matthias Gründling, der den „Sepsis-Dialog“ an der Universitätsmedizin Greifswald ins Leben gerufen hat. 

„Früherkennung ist das A und O, um die Patienten zu retten. Eine frühere Erkennung und Behandlung kann auch vor gravierenden Folgen wie (seltenen) Amputationen schützen und vor Post-Sepsis-Symptomen, zu denen posttraumatische Belastungsstörungen, Fatigue, Depressionen und chronische Schmerzen gehören.“ Durch die speziellen Schulungen seien Sepsisfälle in Greifswald häufig früher erkannt, so Gründling. „Deswegen ist die Sterberate bei uns fünf bis zehn Prozentpunkte niedriger als im bundesweiten Durchschnitt.“

Hamburger Senat und Bund schieben die Verantwortung für das Thema hin und her

Bei der Hamburger Gesundheitsbehörde von Senatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) sieht man vor allem den Bund in der Pflicht, endlich zentrale Vorgaben zu machen. Schon 2018 habe die Gesundheitsministerkonferenz „ein koordiniertes Vorgehen auf nationaler Ebene gefordert“ und vom Bundesgesundheitsministerium verlangt „die Erarbeitung eines Nationalen Sepsisplans durch eine Expertengruppe unter Beteiligung wichtiger Akteure des Gesundheitswesens“ in die Wege zu leiten. 

Im April 2022 habe man das Ministerium an diese Forderung erinnert, heißt es aus der Hamburger Behörde. Passiert ist in dieser Sache wenig. „Vorgaben für Schulungen an Kliniken liegen in der Zuständigkeit der Länder“, heißt es aus dem Haus von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). 

13. September ist Welt-Sepsis-Tag: Politik beginnt Bedeutung langsam zu verstehen

Immerhin: Langsam wächst offenbar auch in Deutschland das Bewusstsein, dass viel mehr gegen diese tückische und oft gut behandelbare Krankheit getan werden muss. Seit 2021 läuft eine bundesweite Kampagne mit dem Namen „Deutschland erkennt Sepsis“. 

Und am 13. September, dem kommenden Mittwoch, wird mittlerweile weltweit der von deutschen Organisationen ins Leben gerufene Welt-Sepsis-Tag begangen, der das Bewusstsein für die Gefahren der Blutvergiftung schärfen soll.

Auch in Hamburg landet das Thema mittlerweile wenigstens sporadisch auf der politischen Agenda. „Noch immer sterben zu viele Menschen an einer Sepsis“, heißt es etwa aus der Wissenschaftsbehörde von Senatorin Katharina Fegebank (Grüne). 

„Der weltweite Aktionstag am 13. September sensibilisiert und erinnert uns alle daran, wie gefährlich die Sepsis noch immer ist.“ SPD-Gesundheitspolitikerin Claudia Loss fordert „strukturelle Verbesserungen in den Kliniken – bessere Personalschlüssel und regelmäßige Weiterbildungen“. Zudem müsse das Thema Sepsis „noch stärker in die Ausbildung junger Medizinerinnen und Mediziner sowie der Pflegenden einfließen“. 

Blutvergiftung (Sepsis): Mehr Tote als durch Herzinfarkt und Schlaganfall

Und Grünen-Gesundheitspolitikerin Gudrun Schittek verspricht: „Wir werden weiter daran arbeiten, dass personelle Ressourcen kontinuierlich ausgebaut und Personal regelmäßig geschult wird, um die Rate der Sterblichkeit durch eine Sepsis in Hamburg noch weiter zu senken.“

Die Opposition sieht den Senat dabei bisher nicht gut aufgestellt. Seit 2022 gebe es ein Konzept zur Qualitätssicherung, mit dem Krankenhäuser eine frühere Erkennung und damit bessere Behandlung der Sepsis umsetzen könnten, betont Linken-Gesundheitspolitiker Deniz Celik. „Die Gesundheitsbehörde sollte dringend mit den Hamburger Krankenhäusern über die verbindliche Umsetzung sprechen.“ 

Kliniken Hamburg: Opposition sieht gravierende Versäumnisse beim Senat

„Es ist ein Armutszeugnis für den Senat, dass der Senatsbericht zu diesem Thema schon seit 18 Monaten überfällig ist“, so Celik. „Wir erwarten außerdem vom Bürgermeister Tschentscher, dass er sich als Mediziner und Präsident des Bundesrates für die Implementierung eines nationalen Aktionsplanes gegen Sepsis entsprechend der WHO-Empfehlungen einsetzt.“

Auch CDU-Fraktionschef Dennis Thering fordert mittlerweile „regelmäßige Schulungen des Personals in Krankenhäusern und Kliniken zur Früherkennung“ der Sepsis. Hier gebe es in Hamburg „noch Nachholbedarf“, so Thering. „Ein großer Teil der durch Sepsis bedingten Todesfälle wäre vermeidbar. 

Zudem muss der rot-grüne Senat endlich ein Controlling etablieren, welches Sepsiserkrankungen und Todesfälle dokumentiert. Um die Wirksamkeit von Maßnahmen überprüfen zu können, braucht es volle Transparenz. In Hamburg darf kein Patient sterben, weil eine Sepsis nicht früh genug diagnostiziert wurde.“ 

Sepsis: Wie man der Killerkrankheit vorbeugen kann

Dass im Kampf gegen diese oft so rasant verlaufende tödliche Krankheit mehr getan werden kann und muss, wissen auch Mediziner. „Das Thema Sepsis muss deutschlandweit im Qualitätsmanagement von Kliniken eine große Rolle spielen“, betont etwa Prof. Stefan Kluge, Chef der Intensivmedizin am UKE. 

„Schulungen zum Thema Sepsis und klare Handlungsempfehlungen zur Antibiotikatherapie und zur Sepsis sind wichtig. Wir benötigen deutschlandweite Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Sepsis.“ Zur Sepsisvorbeugung empfiehlt Kluge „die Beachtung der Impfempfehlungen“, etwa bei Covid-19 und Influenza – aber auch die „Beachtung von Hygieneregeln“.

Rorys tragischer Tod soll einen Sinn haben – und anderen ähnliches Leid ersparen

Auch Asklepios-Chefarzt Prof. Wirtz konstatiert: „Wir können und sollten in Deutschland und in Hamburg noch besser werden bei der Sepsisprävention. Dazu gehören weitere intensive Schulungen des medizinischen Personals, aber auch eine breitenwirksame Aufklärung der Bevölkerung. 

Denn nur, wenn die Menschen die Zeichen bei Angehörigen erkennen, können sie entsprechend reagieren. Bei Verdacht auf Sepsis heißt das: Sofort ab ins Krankenhaus!“

Rory Staunton wollte Pilot werden. Seine Eltern haben das unermessliche Leid, das der Tod ihres Sohnes ihnen verursachte, in Wut und in die Kraft umgewandelt, für eine Verbesserung in den Kliniken und gegen die Sepsis zu kämpfen.
Rory Staunton wollte Pilot werden. Seine Eltern haben das unermessliche Leid, das der Tod ihres Sohnes ihnen verursachte, in Wut und in die Kraft umgewandelt, für eine Verbesserung in den Kliniken und gegen die Sepsis zu kämpfen.
Foto: Staunton

Ob einem im Krankenhaus dann richtig geholfen wird, hängt allerdings auch davon ab, ob die deutschen Kliniken das Thema Sepsis künftig ernst genug nehmen – noch ernster als bisher. Dabei geht es laut Ruth Hecker vom Aktionsbündnis Patientensicherheit gar nicht um die Frage, ob die Ärzte kompetent genug sind. 

Die meisten Fehler passierten, „weil Prozesse und Strukturen in den Kliniken schlecht organisiert sind“, so Hecker. „Es geht also um ein Organisationsversagen. Hier sind Vorstände, Geschäftsführungen und Abteilungsleitungen in der Verantwortung.“ 

Sepsis: Wie Rorys Eltern ihr Leid in Kraft und den Kampf für andere verwandelt haben

Die Eltern von Rory Staunton haben ihren unermesslichen Schmerz und ihre Trauer um ihren Sohn erst in Wut und dann in Kraft verwandelt. Seit 2013 kämpfen sie dafür, dass Ärzte und Pfleger besser in Sepsiserkennung geschult und mehr Menschen gerettet werden, die sich eine Blutvergiftung zuziehen. 

Mittlerweile hat ihre Stiftung END SEPSIS weltweit für Fortschritte beim Kampf gegen die tödliche Krankheit gesorgt – und damit vermutlich schon viele Leben gerettet. „Unser Sohn ist tot, mit diesem Schmerz werden wir für immer leben müssen“, sagten Rorys Eltern vor einigen Jahren in einem Interview. „Aber andere sollten dieses Schicksal nicht erleiden müssen.“

Dieser Text erschien zuerst als Artikel im „Hamburger Abendblatt“ am 11. September 2023.

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