Vor ein paar Wochen hatte ich um Hilfe für einen Artikel zum Thema Hamburg in der (Welt-)Literatur gebeten. Auch dank vieler Rückmeldungen auf Facebook und im Blog entstand schnell eine ziemlich lange Liste. Ich habe daraus subjektiv dies und das ausgewählt und es mal in einem Text zusammengefasst, der jetzt (etwas kürzer als in der Blog-Version auch) in der „Welt am Sonntag“ erschienen ist. Ein Kriterium bei der Auswahl war für mich, dass Hamburg nicht der alleinige Handlungsort und der Autor kein Hamburger sein sollte. Es ging mir mehr um eine Außensicht auf die Stadt. Herzlichen Dank an alle Mithelfenden!
Natürlich ist es für die Hamburger eine kaum zu übertreffende Freude, wenn ihre Stadt in der Weltliteratur erwähnt wird und dabei auch noch gut weg kommt (während den Berlinern so etwas völlig wumpe ist). Das mag daran liegen, dass die Hamburger selbstverliebter und verliebter in ihre Stadt sind, als es mit dem angeblich so dezenten Hanseatentum vereinbar ist, das sie stets vor sich hertragen. Man weiß nicht genau, ob sie sich ihre Dezenz nur einbilden, oder ob es sich um eine dezente Eingebildetheit handeln.
So oder so: Zu steigern ist die Lust nur noch, wenn im selben Buch schlecht über Bremen geschrieben wird. Demnach müsste der 2004 erschienene Roman „2666“ von Roberto Bolaño bald Zwangslektüre in allen Hamburger Literaturseminaren werden.
In dem Roman des so jung in Spanien gestorbenen Chilenen, der von der internationalen Kritik als eines der besten Bücher mindestens des vergangenen Jahrzehnts gefeiert wurde, geht es um alles, was das menschliche Dasein ausmacht: um Sex und Gewalt, um Kunst und Verbrechen (etwa die Mordserie an Frauen in Mexiko), um Liebe und Tod – und um Literatur. Dass bei dieser Tragweite eine Weltmittelstadt wie Hamburg schon auf der ersten Seite auftaucht, darf einen Hanseaten mit diskretem Stolz erfüllen.
Ausgerechnet in Hamburg sucht in 2666 eine Horde trauriger Germanisten nach den Spuren des verschollenen Autors Archimboldi, der zu Beginn seiner Karriere von einem Hamburger Verleger unter Vertrag genommen worden war. Einer der Literatur-Detektive „schrieb an den Hamburger Verlag … erhielt aber nie eine Antwort”, heißt es auf der ersten Seite von 2666 – was immerhin kein Klischee ist, denn es steht eher zu vermuten, dass Hamburger in Wahrheit schnell und verbindlich antworten. Alte Kaufmannstugend. Aber vielleicht ist auch das bloß ein Stereotyp.
Später kommen Bolaño und seine Figuren dem Klischee schon näher, denn als sie nichts anderes zu tun haben, machen die Germanisten Pelletier und Espinoza einen Spaziergang durch die Stadt und landen unweigerlich auf dem Kiez, also im „Viertel der Prostituierten und Peep Shows”. Das allerdings hat auf die Männer nicht den gängigen Effekt, denn es macht sie beide so melancholisch, „dass sie einander von verflossenen Lieben und Enttäuschungen zu erzählen begannen”.
Tatsächlich hat der kurze Spaziergang dieser beiden Figuren von literarischem Weltrang eine heilende Wirkung. Denn als die Verlegerwitwe Bubis, die sie in einem „Altbau in einem Hamburger Nobelviertel” besuchen, ihnen bei der Suche nach dem verschollenen Autor nicht hilft, wird den beiden Literaturwissenschaftler auf „Sankt Pauli” schließlich klar, dass die Suche ihr Leben sowieso „niemals würde ausfüllen können”. Und als wichtigste in Hamburg gewonnene Erkenntnis begreifen Pelletier und Espinoza, „dass sie Liebe, nicht Krieg machen wollten“.
Genauso erbaulich wie diese Lehre oder Lebensentscheidung, die der Franzose und der Spanier von hier mitnehmen, ist für einen Hamburger die bösartige Beschreibung Bremens, wo sich die vier Hauptfiguren zu einem Kongress treffen. Sie essen in einem Restaurant „in einer dunklen, von alten hanseatischen Häusern gesäumten Straße, von denen einige aussahen wie ehemalige Verwaltungsgebäude der Nazis”.
Das Lokal, zu dem „einige wenige regennasse Treppenstufen hinunterführten”, konstatiert eine von ihnen, „könnte scheußlicher nicht sein”. Die Stadt ist nass und die Lichter leuchten überall, „als wäre Bremen eine Maschine, durch die von Zeit zu Zeit kurze, heftige Stromstöße zuckten”.
Natürlich hat Hamburg mehr zu bieten als erfundene Schriftsteller wie den verloren gegangenen Archimboldi – nämlich echte und berühmte Autoren. Zugleich hat die Stadt aber immer wieder auch als Bühne für bekannte Romane gedient und ist dabei nicht nur gut weggekommen.
In den Buddenbrooks von Thomas Mann etwa stammt der skrupellose Kaufmann und spätere Pleitier Bendix Grünlich aus Hamburg. Der als ziemlicher Widerling gezeichnete 32-Jährige trägt einen Backenbart, „von ausgesprochen goldgelber Farbe“ und hat blaue Augen, die Tony Buddenbrook an die einer Gans erinnern. Trotzdem heiratet sie ihn von der Familie gedrängt. Tony bringt 80.000 Mark mit in die Ehe und bekommt in Hamburg eine Tochter von dem Gelbbart, der es nur auf ihr Geld abgesehen hat – und dennoch pleite geht, woraufhin Tony nach Lübeck zurückkehrt.
Neben solchen Verschlagenheiten mancher Kaufleute und einer zum Teil „sittenlosen Gesellschaft“ steht Hamburg aus der Sicht der Lübecker Buddenbrooks aber stets auch für das Neue, das Moderne und Noble, für die feinste Kleidung und die „reichen Verwandten“.
Weitaus fantastischer geht es in Jules Vernes 1864 erschienen Roman „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ zu, in dem der Hamburger Professor Otto Lidenbrock mit Hilfe eines geheimen Dokumentes den Weg durch einen Vulkan zum Erdmittelpunkt findet. Lidenbrock, der „Oheim“ des Ich-Erzählers, „wohnte auf der Königsstraße in einem eigenen kleinen Hause, das halb aus Holz, halb aus Ziegelstein gebaut war, mit ausgezacktem Giebel“, heißt es in dem Buch. „Es lag an einem der Canäle, welche in Schlangenwindungen durch das älteste Quartier Hamburgs ziehen, das von dem großen Brand im Jahre 1842 glücklich verschont wurde; sein Dach saß ihm so schief, als einem Studenten des Tugendbundes die Mütze auf dem Ohr; das Senkblei durfte man an seine Seiten nicht anlegen; aber im Ganzen hielt es sich fest, Dank einer kräftigen in die Vorderseite eingefügten Ulme, die im Frühling ihre blühenden Zweige durch die Fensterscheiben trieb.“
Dass Jules Vernes Hamburg zum Schauplatz wählte dürfte mit einer Reise zu tun haben, die er 1861 von Paris über Hamburg nach Skandinavien unternahm, und von der Tagebuchaufzeichnungen erhalten sind.
Wo wir gerade im 19. Jahrhundert und beim Großen Brand sind: Natürlich kommt Hamburg auch in Heinrich Heines satirischem Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ aus dem Jahr 1844 vor. Zwei Jahr zuvor hatte das Feuer weite Teile der Altstadt zerstört und so dichtet Heine: „Die Stadt, zur Hälfte abgebrannt, wird aufgebaut allmählich; wie ’n Pudel, der halb geschoren ist, sieht Hamburg aus, trübselig. Gar manche Gassen fehlen mir, die ich nur ungern vermisse – wo ist das Haus, wo ich geküsst der Liebe erste Küsse?“
Immerhin kann sich der trauernde Dichter an den Hamburger Delikatessen trösten: „Als Republik war Hamburg nie so groß wie Venedig und Florenz, doch Hamburg hat bessere Austern; man speist die besten im Keller von Lorenz.“
Im 20. Jahrhundert wird Hamburg in den Romanen bisweilen zu einem Sinnbild für körperliche Freiheit und Lebenslust, aber auch für die Verruchtheit, die eine Hafenstaat mit notorischer Prostitution und Bordellen bis in weite Ferne ausstrahlt. Für den britischen Schriftsteller Stephen Spender stehen Deutschland und Hamburg im 1930 geschriebenen Roman „Der Tempel“ für eine Welt der Offenheit gegenüber Sexualität und Körperlichkeit.
Hauptfigur Paul Schoner besucht 1929 einen Bekannten in Hamburg, der einer reichen Familie mit pompöser Villa an der Alster entstammt. Während im prüden England die Menschen nach den Schrecken der Ersten Weltkriegs noch bemüht sind, ihr gewohntes Leben weiterzuführen, manifestiert sich für Paul in Deutschland ein Aufbruch der Jugend, der sich in Wandervogel und Körperkultur ausdrückt. Obschon sich der Niedergang in den braunen Horror bereits abzeichnet, genießt der Hauptdarsteller die letzten Ausläufer einer kurzen Zeit der Freiheit. Das Buch ist erst in den 1980er erschienen – offenbar auch wegen seiner offenen Darstellung von Homosexualität.
Als Stadt der Prostituierten und Bordelle, taucht Hamburg auch in Friedrich Dürrenmatts Stück „Der Besuch der alten Dame“ auf. Die entehrte und schwangere 17-jährige Klara Wäscher verlässt in der Tragikkomödie ihre Heimat, die fiktive schweizerische Kleinstadt Güllen, und fährt mit dem Zug nach Hamburg.
Dort schafft sie in einem Bordell an, bis der „Zachanassian mit seinen Milliarden aus Armenien“ sie findet und mit sich nimmt. „Meine roten Haare lockten ihn an, den alten, goldenen Maikäfer“, erzählt die nunmehr alte Dame, die als Milliardärin Claire Zachanassian nach Güllen zurückkehrt, um tödliche Rache an dem Mann zu nehmen, der sie einst entehrte.
Als musikalische Hafenstadt kommt Hamburg bei einem anderen Schweizer Schriftsteller vor, nämlich in Friedrich Glausers 1936 erschienen ersten Wachtmeister Studer-Roman. Der kauzige Polizist ermittelt in einer Mordsache in einem Kaff namens Gerzenstein, das sich für ihn vor allem dadurch von anderen Dörfern unterscheidet, dass überall Lautsprecher stehen und aus allen Häusern Musik oder lautes Reden zu hören ist.
Die Gerzensteiner sind große Radiofreunde, was den ständig Brissago rauchenden Wachtmeister eher irritiert als erfreut. Ganz am Ende jedenfalls, der Fall ist nunmehr geklärt, muss sich Studer aus einem fahrenden Wagen werfen, wird schwer verletzt und landet im Krankenhaus, im „Gemeindespital Gerzenstein”, um genau zu sein. Als er schließlich nach ein paar Tagen wieder richtig zu sich kommt, hört er natürlich als erstes Musik, wie man es in Gerzenstein wohl auch nicht anders erwarten kann.
“Was ist das?”, fragte Studer?“Hafenmusik – Hamburg”, sagte die Schwester. “Gerzenstein und die Lautsprecher”, murmelte Studer. Und dann gab es Milch und Weggli und Anken und Konfitüre.
Wobei man wissen muss, dass das Hamburger Hafenkonzert zum ersten Mal 1929 über den Äther ging, also sieben Jahr vor Erscheinen dieses Krimis – und damit laut NDR die älteste bis heute ausgestrahlte Radio-Sendung ist. Sie ist jeden Sonntag um sechs Uhr zu hören, genau zur richtigen Zeit für ein Frühstück im Gemeindespital. Übrigens ist von Hamburg fortan nicht mehr die Rede in Glausers Roman. Wie vorher auch schon nicht.
Eine gewichtigere Rolle spielt Hamburg im 1972 erschienen Thriller „Die Akte Odessa“ von Frederick Forsythe. Darin kommt der Hamburger Journalist Peter Miller beim Recherchieren über den Selbstmord des alten Salomon Tauber einer Verschwörung alter Nazis auf die Spur. Die Geschichte beginnt am Tage der Ermordung John F. Kennedys.
Miller kommt in seinem Jaguar zurück vom Haus seiner Mutter im „Vorort“ Osdorf. Als er an einer roten Ampel in der Stresemannstraße steht, überholt ihn ein Polizeiwagen mit Blaulicht – und Miller rast hinterher und mitten hinein in die Geschichte der Akte Odessa.
Auch John le Carré lässt einige seiner Spionage-Thriller in Hamburg handeln – kein Zufall, war er doch Anfang der 1960er Jahre als MI5-Agent für einige Jahre in Hamburg stationiert. Der 2008 erschienene Roman „Marionetten“ befasst sich mit der von Angst und Verdacht geprägten Welt nach den Anschlägen des 11. September 2001 – und spielt natürlich in der Hansestadt, wo die Terrorzelle ihre weltstürzenden Angriffe vorbereitete.
„Seit den Anschlägen vom elften September waren die Hamburger Moscheen gefährliche Orte geworden“, heißt es in dem Buch bald zu Beginn. „Niemand, sei er Muslim, Polizeispitzel oder beides, konnte vergessen, dass der Stadtstaat Hamburg, ohne es zu ahnen, drei der Attentäter vom elften September nebst weiteren Zellenmitgliedern und Mitverschwörern beherbergt hatte und dass Mohammed Atta, der mit dem ersten Flugzeug in die Zwillingstürme gekracht war, in einer bescheidenden Hamburger Moschee zu seinem grimmigen Gott gebetet hatte.“ Aber: Ist der junge über die Türkei eingereiste Tschetschene, der Zuflucht bei einer Familie in Altona gesucht hat, wirklich ein Terrorist – oder nur ein Flüchtling, der ein besseres Leben sucht?
Nach der Verruchtheit von „Sankt Pauli“, Hafen, Nazis und anderen Verbrechern bleibt noch ein Thema zu besprechen: das Wetter. In Haruki Murakamis „Naokos Lächeln“ dient Hamburg vor allem als Sinnbild für das trübe Wetter, das man ihm nachsagt, und das bestens zur Melancholie des Erzählers passt, der von einer verlorenen Jugendliebe berichtet.
„In ihrem Anflug auf Hamburg tauchte die riesige Maschine in eine dichte Wolkenschicht ein“, heißt es zu Beginn des Buches. „Trüber, kalter Novemberregen hing über dem Land und ließ die Szenerie wie ein düsteres flämisches Landschaftsbild erscheinen: Die Arbeiter in ihren Regenmänteln, die Fahnen auf dem flachen Flughafengebäude, die BMW-Reklametafeln. Ich war also wieder einmal in Deutschland.“
Fehlt nur noch die Apokalypse: In der 1951 erschienen Erzählung „Schwarze Spiegel“ von Arno Schmidt ist das Ende gekommen. Einer der letzten Menschen vagabundiert als Ich-Erzähler nach dem Dritten Weltkrieg durch die Welt, bis er sich ein Holzhaus in der Lüneburger Heide baut. Um es einzurichten, unternimmt er eine Fahrt mit dem Fahrrad ins menschenleere Hamburg, wo er Museen und Bibliotheken plündert.
Erst nach fünf Jahren begegnet er einer Frau, die er aber am Ende wieder ziehen lassen muss. Spötter behaupten, die Erwähnung Hamburgs sei (angesichts der sonst nicht so häufigen Nennung in der hohen Literatur) ein Grund dafür gewesen, dass der Senat 2004 den Platz vor der Zentralbibliothek am Hühnerposten Arno-Schmidt-Platz taufte.
Was also ist Hamburg in (der literarischen) Wahrheit – gemessen an dieser (ebenso zufälligen wie unvollständigen) Liste seiner Erwähnungen? Genau: Eine reiche, ein wenig versnobte und ziemlich verruchte Hafenstadt mit dem ältesten Radiokonzert der Welt, allerlei finsteren Gestalten und vielen Puffs, die einsame Seelen im Novemberniesel zum Aufwärmen laden – und außerdem mit einer Vielzahl von Museen und Bibliotheken, mit deren Werken man sich auch nach der Apokalypse geistig über Wasser halten kann.
Es ginge sicher schlechter. Aber lassen wir es Heinrich Heine sagen, der kann das besser: „Bleib bei mir in Hamburg, ich liebe dich. Wir wollen trinken und essen. Den Wein und die Austern der Gegenwart. Und die dunkle Zukunft vergessen.“
Nachbemerkung: Hilfreich bei der Suche nach Handlungsorten von Romanen sind Seiten wie Goodreads, Handlungsreisen, Bookssetin und natürlich das Projekt Gutenberg. An der Hamburger Uni bin ich auf keine Untersuchung zum Thema Hamburg-Bilder in der Literatur gestoßen. Dabei hätte ich gewettet, dass es dazu massenhaft Arbeiten gibt. Allerdings hat mir Prof. Rainer Nicolaysen, Vorstand des Vereins für Hamburgische Geschichte, ein paar wertvolle Tipps gegeben. Der Mann weiß einfach alles, wenn es um Hamburg geht. Folgende Bücher, die auch auf meiner zufälligen Hamburg-Liste standen, habe ich im Artikel nicht erwähnt: Uwe Timms „Die Entdeckung der Currywurst“, Hubert Fichtes „Die Palette“, Alexandre Dumas‘ „Lady Hamilton“ oder Klaus Manns „Mephisto“. Außerdem kommt Hamburg wohl auch in Stieg Larssons „Verdammnis“, Robert Harris‘ „Vaterland“ und Thomas Pynchons „Die Enden der Parabeln“ vor. Hab ich aber nicht überprüft.
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