Frau und Sohn tot: Wie ein Vater gegen eine der renommiertesten Kliniken kämpft

Ärzte des UKE erkennen den Zustand der Frau erst spät, sie und ihr Kind sterben. Ihre Akte dokumentiert die Tragödie. Nun wird gegen vier Mediziner ermittelt.

Der 23. Mai 2019 hätte ein guter Tag werden können. Für Hamburgsind 20 Grad und zwölf Sonnenstunden angesagt. Deutschland debattiert engagiert über ein CDU-Video des YouTubers Rezo. Und das Abendblatt titelt zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Heute ist ein Tag, dankbar zu sein.“ 

Für Joachim Greuner aber wird der 23. Mai 2019 kein guter Tag, kein normaler Tag und kein Tag, dankbar zu sein. Für den Steuerjuristen aus Ellerbek wird der 23. Mai 2019 zum furchtbarsten Tag seines Lebens. Am frühen Morgen legen ihm Ärzte und Hebammen im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) seinen toten Sohn in die Arme. Und am Nachmittag steht der Chef der Geburtsklinik mit zwei Kollegen vor ihm. Die Ärzte teilen ihm mit, dass auch seine Ehefrau nicht mehr am Leben ist. 

„Wie kann es sein, dass beide sterben?“, fragt Joachim Greuner nach einem kurzen Moment der Stille. „Was ist in der Nacht passiert?“

„Sie stellen die richtigen Fragen“, antwortet einer der Ärzte. 

UKE: Keine befriedigenden Antworten auf Fragen zum Tod von Frau und Sohn

So berichtet es Joachim Greuner. Aber bis heute, vier Jahre nachdem er seine Frau Silja und seinen Sohn Maxim im UKE verlor, hat Greuner keine befriedigenden Antworten auf seine „richtigen Fragen“ bekommen. Nicht vom UKE, nicht von der für die Klinikaufsicht zuständigen Grünen-Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank, nicht von der Ärztekammer und nicht von der „Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen“. 

Dabei hat der 41-Jährige im Grunde nur eine Frage: Was ist im Mai 2019 so furchtbar schiefgelaufen, dass seine hochschwangere Frau und sein ungeborenes Kind sterben mussten?

Zehntausende sterben in Kliniken an dieser Krankheit, die noch immer unterschätzt wird

Den Kampf um eine Antwort führt Joachim Greuner noch immer. Gegen eine übermächtig wirkende Klinik. Gegen eine aus seiner Sicht bisweilen mangelhafte Fehlerkultur in der Medizin. Und gegen eine Politik, die seit Jahren zusieht, wie in Kliniken nach Expertenschätzungen Zehntausende Menschen sinnlos sterben, weil Ärzte eine der gefährlichsten und häufigsten Erkrankungen oft nicht rechtzeitig erkennen.

Die Erkrankung, an die auch Silja und Maxim Greuner im UKE ihre Leben verloren: die Sepsis, eine Blutvergiftung. Dabei reagiert das Immunsystem so heftig auf eine Infektion mit Bakterien oder Viren, dass es eigene Organe schädigt. Die rechtzeitige Gabe von Antibiotika kann die Sepsis meist stoppen. Unbehandelt dagegen verläuft die Erkrankung häufig tödlich.

Kurz nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes wandte sich Joachim Greuner an einen Anwalt und ließ ihn Einsicht in die UKE-Patientenakten nehmen. Er rief die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen an, aber als alles nur zäh voranging, wandte er sich an die Öffentlichkeit, und der „Spiegel“ und das „Abendblatt“ berichteten über den Fall. Das Echo war enorm – aber vom UKE bekam er immer noch nicht die Antworten, die er sich erhoffte. Deswegen ist Greuner nun den nächsten Schritt gegangen: Er hat Strafanzeige erstattet und Zivilklage gegen das UKE eingereicht. 

UKE: Staatsanwälte ermitteln gegen vier Ärzte wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung

Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat dem Abendblatt bestätigt, dass sie gegen vier aktuelle oder frühere UKE-Ärztinnen und -Ärzte ermittelt – wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Sollte es zu einer Anklage und schließlich auch zu einer Verurteilung kommen, drohen den Medizinern harte Strafen. Im maßgeblichen Paragrafen 222 des Strafgesetzbuches heißt es: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Allerdings ist der Ausgang der Ermittlungen laut Staatsanwaltschaft offen, und natürlich gilt auch in diesem Fall die Unschuldsvermutung.

Nun wälzen die Juristen zunächst Gutachten, Stellungnahmen und die rund 200 Seiten der Patientenakte von Silja Greuner, die auch dem Abendblatt vorliegt. Eine der ersten Eintragungen vom 22. Mai 2019 darin lautet: „12:25 Uhr, Aufnahme SAP, paroxysmale fet. Tachykardie – Mitbeurteilung erbeten“ Bei der Aufnahme hat Silja Greuner laut der Akte mehr als 40 Grad Fieber und Gliederschmerzen, das Herz des Kindes schlägt zu schnell. Keine 28 Stunden später ist Silja Greuner tot. Ihr Sohn auch.

Tod im UKE: Wäre das Testergebnis schneller gekommen, hätte es sie vielleicht gerettet 

Vier Tage zuvor war die hochschwangere Frau mit ihrem Mann und dem damals dreijährigen Sohn Niklas von einem Mallorca-Urlaub zurückgekehrt. Gesund und guter Dinge. Am 22. Mai erwacht sie mit Fieber und Gliederschmerzen. Ihr Frauenarzt stellt bei ihrem ungeborenen Sohn einen beschleunigten Puls fest und schickt sie ins UKE – zur Sicherheit. Der Assistenzarzt, der sie aufnimmt, vermutet eine Sommergrippe, in der Akte ist ein „Influenza Schnelltest“ vermerkt.

Ein Influenza-Schnelltest funktioniert ähnlich wie ein Corona-Test, das Ergebnis liegt meist binnen 15 Minuten vor. In diesem Fall hätte es gezeigt, dass Silja Greuner nicht an Grippe erkrankt ist. Wäre es so schnell da gewesen wie angekündigt, hätten die Ärzte vermutlich nach anderen Ursachen für die Beschwerden gesucht – vielleicht hätte das Silja Greuners Leben gerettet. Vielleicht wäre man im UKE dann doch noch darauf gekommen, dass eine Sepsis vorlag, und hätte der jungen hochschwangeren Frau sofort Antibiotika gegeben und sie auf die Intensivstation verlegt. Aber das negative Ergebnis des Grippetests kommt erst am nächsten Tag. Da ist die junge Frau schon fast tot.

Gegen 6 Uhr macht Silja Greuner den letzten Anruf ihres Lebens 

Weil die Ärzte also zunächst weiter von einer Grippe ausgehen, bekommt Silja Greuner nicht die Antibiotika, die ihr und ihrem ungeborenen Kind vielleicht das Leben gerettet hätten. Denn bei der von Influenzaviren ausgelösten Grippe wirken Antibiotika nicht. Stattdessen werden der hochschwangeren Frau Schmerzmittel verabreicht, immer mehr und immer stärkere Schmerzmittel, auch um das hohe Fieber zu senken. Immer wieder verzeichnet die Akte Klagen von Silja Greuner über schwere und zunehmende Schmerzen. 

In den frühen Morgenstunden des 23. Mai eskaliert die Situation. Erst jetzt ist in der Akte die Rede von einem Verdacht auf Sepsis. „Patientin ist in deutlich reduziertem Allgemeinzustand. Blasse Lippen, gräuliches Erscheinungsbild“, notiert die verantwortliche Oberärztin handschriftlich in einem erst nach dem Tod von Silja Greuner erstellten Protokoll. „Fast aufrecht im Bett sitzend und über starke abdominelle Schmerzen klagend.“ Die Ärzte entscheiden sich für einen eiligen Kaiserschnitt. Gegen 6 Uhr morgens ruft Silja Greuner mit letzter Kraft ihren Mann an: „Komm schnell, sie holen ihn jetzt“, sagt sie. Das sind die letzten Worte, die Joachim Greuner von seiner Frau hört.

Als die Ärzte den kleinen Maxim auf die Welt holen, hat sein Herz aufgehört zu schlagen

Als die Ärzte den kleinen Jungen namens Maxim zur Welt bringen, dessen Herz am Mittag des Vortags noch so schnell geschlagen hatte, ist er tot. Man weiß nicht genau, wann er gestorben ist, möglicherweise bereits in der Nacht im Zuge der Blutvergiftung seiner Mutter. Kurz vor dem Kaiserschnitt allerdings hatte der Wehenschreiber noch einen Herzschlag von 150 Schlägen pro Minute aufgezeichnet – aber dies könnte auch der Herzschlag der Mutter gewesen sein, wie eine Ärztin auf dem Auswertungsbogen handschriftlich notiert.

Die laut einem späteren Gutachten mehrstündige Operation raubt der ohnedies um ihr Leben kämpfenden Silja Greuner offenbar die letzten Kräfte. Ihr Zustand verschlechtert sich rapide, und sie wird auf die Intensivstation verlegt. Wegen schwerer innerer Blutungen wird Silja Greuner schließlich in einer weiteren Operation die Gebärmutter entfernt, aber auch das hilft nicht mehr. 

Die Patientin sei im Zustand eines „schweren septischen Schocks“ auf die Intensivstation gekommen, heißt es in der Patientenakte. „Trotz maximal eskalierten intensivmedizinischen und chirurgischen Maßnahmen sowie unter fortgeführten Wiederbelebungsmaßnahmen konnte der Zustand der Patientin nicht stabilisiert werden“, steht wörtlich in dem Bericht. „Frau Greuner verstarb um 16:12 Uhr. Die Analyse aller auch im Verlauf eingegangenen Befunde ergab ein Toxic Shock Syndrome auf dem Boden einer Infektion mit Streptokokken der Serogruppe A als Ursache dieses foudroyanten Krankheitsverlaufs.“

Das aus dem Französischen stammende Wort „foudroyant“ bedeutet so viel wie blitzartig oder stürmisch und wird in der Medizin für ein stark beschleunigtes Krankheitsgeschehen verwendet. Aber starb Silja Greuner wirklich, weil ihre Blutvergiftung so rasant verlief, dass sie schon nicht mehr aufzuhalten war, als sie ins UKE kam? Oder hätten die UKE-Ärzte die Sepsis zumindest mithilfe von hinzugezogenen Fachärzten erkennen müssen – und hätten sie Frau und Kind damit gerettet? Mussten die beiden Menschen also sterben, weil Ärzte im UKE nicht in der Lage waren, eine der häufigsten Infektionskrankheiten zu erkennen und angemessen zu behandeln? 

Sepsis-Experte: „Im Fall von Frau Greuner hat das UKE auf zwei Ebenen versagt“

Für den Vorsitzenden der deutschen Sepsis-Stiftung, Prof. Konrad Reinhart, ist die Sache klar. „Im Fall von Frau Greuner hat das UKE auf zwei Ebenen versagt“, sagt der renommierte Intensivmediziner im Gespräch mit dem Abendblatt. „Zum einen wurde das potenziell lebensbedrohliche Geschehen gar nicht als solches erkannt. Frau Greuner wurde daher nicht umgehend auf die Intensivstation verlegt, wie es absolut angezeigt gewesen wäre. Zum anderen wurde, obwohl Sepsis zu einer der häufigsten Todesursachen bei Schwangeren zählt, auch gar nicht die Frage gestellt, ob es eine Sepsis sein könnte.“ 

Wenn „sofort im Einklang mit den Behandlungsrichtlinien innerhalb einer Stunde Antibiotika verabreicht worden wären“, hätten Frau und Kind „mit hoher Wahrscheinlichkeit überlebt“, so Reinhart. „Dass die Sterblichkeit der Sepsis mit jeder Verzögerung der Therapie im Stundentakt steigt, ist wissenschaftlich belegt. Man muss vom ärztlichen und pflegerischen Personal erwarten, dass es im Rahmen der Ausbildung und Weiterbildung befähigt wurde, ein unmittelbar lebensbedrohliches Geschehen schnell als solches zu erkennen.“

An Sepsis sterben in deutschen Kliniken laut Sepsis-Stiftung bis zu 100.000 Menschen im Jahr. Mehr als 50.000 davon könnten gerettet werden, sagt Stiftungs-Chef Reinhart: „Dafür braucht man keine Wundermedikamente. Man braucht lediglich eine systematische Schulung auf das Erkennen der frühen Warnzeichen wie schnelle schwere Atmung, Wesensveränderung, Verwirrtheit, Blutdruckabfall, Fieber oder hohe Herzfrequenz.“ Solche Warnzeichen gab es nach allem, was man weiß, auch im Fall von Silja Greuner. 

Vor dem Landgericht Hamburg geht es um Schmerzensgeld und eine grundsätzliche Frage 

Neben den Hamburger Staatsanwälten befasst sich in dem vom Witwer angestrengten Verfahren nun auch das Landgericht Hamburg mit dem Tod von Silja und Maxim Greuner. In dem Zivilverfahren dürfte es bald zum ersten Verhandlungstermin kommen. Dabei geht es um Schmerzensgeld, Schadenersatz, Verdienstausfälle, Anwalts- und Gerichtskosten. All das könnte sich auf Hunderttausende Euro summieren. Der Versicherungsträger, der Greuner und seinem Sohn eine vierstellige monatliche Rente zahlt, hat sich der Klage des Witwers als sogenannter „Streithelfer“ angeschlossen. Denkbar ist daher, dass das UKE, sollten in diesem Verfahren Versäumnisse festgestellt werden, später auch für die Rentenzahlungen herangezogen würde.

Silja Greuner war Rechtsanwältin. Expertin für Medizinrecht, ausgerechnet. Sie stand kurz davor, Teilhaberin einer Kanzlei zu werden und sehr gut zu verdienen. Man kann ein menschliches Leben nicht mit Geld aufwiegen. Man kann einer Familie aber das Einkommen ersetzen, das ihr verloren geht, weil die Mutter plötzlich, eingeäschert zusammen mit ihrem Sohn, in einem Grab im Ruheforst Kummerfeld liegt. Wenn es denn am Ende wirklich fatale Versäumnisse von Medizinern gegeben haben sollte. Vor allem darum geht es Joachim Greuner jetzt: um eine gerichtliche Feststellung, ob das UKE tödliche Fehler gemacht hat.

„Fortschritt gibt es nur, wenn Menschen Fehler eingestehen und daraus lernen“

Denn die unbändige Energie des schlanken Mannes aus Ellerbek speist sich nicht allein aus seinem Schmerz, wie es scheint. Sie speist sich auch aus der Überzeugung, dass es Fortschritt und Gerechtigkeit auf dieser Welt nur geben kann, wenn Menschen ihre Fehler eingestehen und daraus lernen. Das gilt in Greuners Augen auch für große, mächtige Institutionen – und für renommierte Kliniken wie das UKE. 

Konkret geht es in den Verfahren nun also um mehrere Fragen: Hätte das UKE die Sepsis erkennen und sofort mit Antibiotika behandeln müssen? Wären die Leben von Silja Greuner und ihrem Sohn damit gerettet worden? War es richtig, eine belastende Kaiserschnitt-Operation durchzuführen? Oder kam diese Operation für das Kind sogar zu spät?

Das erste der im Auftrag der Schlichtungsstelle erstellte Gutachten sieht keine gravierenden Fehler beim UKE. Die Ärzte hätten mit dem damaligen Kenntnisstand „die entsprechenden richtigen Maßnahmen unter der Verdachtsdiagnose einer viralen Infektion ergriffen“. Sie hätten „auf Grund der anfänglich unspezifischen Symptome nicht mit einer sehr selten auftretenden, bakteriellen Sepsis durch Streptokokken der Gruppe A mit einem solch foudroyanten Verlauf gerechnet“. Der Tod des Neugeborenen und der Mutter werde daher als „unvermeidbar“ eingestuft.

Gutachter: „Das Infektionsgeschehen bei Frau Silja Greuner wurde fehlerhaft beurteilt“

Eine zweite Expertise, die ebenfalls von der Schlichtungsstelle in Auftrag gegeben wurde, kommt dagegen zu anderen Schlüssen. Der Gutachter wirft den UKE-Ärzten vor, dass sie in dem kritischen Zustand der Mutter einen Kaiserschnitt (lateinisch: Sectio caesarea) durchgeführt haben – obwohl das Kind bereits tot gewesen sei. Eine „Sektio bei totem Kind galt und gilt auch heute als kunstfehlerhaft“, schreibt der Gutachter. „Es steht außer Zweifel, dass die über zwei Stunden währende Kaiserschnitt-Prozedur, der damit verbundene Blutverlust und der Stress eine maßgebliche Ursache des Exitus gewesen sein dürften.“ 

Außerdem stellt der Gutachter fest: „Das Infektionsgeschehen bei Frau Silja Greuner wurde fehlerhaft beurteilt. Fieber, fetale Tachykardie, Leukozytose und die allgemeine Symptomatik sprachen eher für eine bakterielle Infektion als für eine Virusinfektion.“ Und: „Eine frühzeitigere antibiotische Behandlung wäre angezeigt gewesen.“ Ob Silja Greuner bei früher Antibiotikagabe überlebt hätte, darauf will sich der Gutachter allerdings nicht festlegen – darüber könne nur spekuliert werden, schreibt er. 

Dritter Experte: Hätten Ärzte das Kind früher geholt, hätte es wahrscheinlich überlebt

Ein dritter Gutachter, den Joachim Greuner selbst beauftragte, sieht gleich eine ganze Kette von Fehlern beim UKE. So sei es falsch gewesen, den Fötus nicht durchgehend „kardiotokographisch“ (also per CTG-Gerät) zu überwachen und früher auf die Welt zu holen. Noch um 2 Uhr am Morgen des 23. Mai hätte ein Kaiserschnitt laut diesem Gutachter „mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit“ dazu geführt, dass Maxim Greuner „lebend und gesund geboren worden“ wäre.

Falsch sei es auch gewesen, nicht sofort erfahrene Fachärzte hinzuzuziehen, die Patientin nicht frühzeitig auf die Intensivstation zu verlegen und ihr kein Antibiotikum zu verabreichen, schreibt der Gutachter. Der „grundlose Verzicht auf eine hoch dosierte Antibiotikagabe“ bei einer Patientin in der 36. Schwangerschaftswoche mit „septischen Temperaturen“ stelle einen Fehler dar, der „einer durchschnittlich qualifizierten Fachärztin schlechterdings nicht hätte unterlaufen dürfen“.

Der Fall Greuner berührt auch drei grundsätzliche Probleme in deutschen Kliniken

Fazit des dritten Gutachters: Die UKE-Ärzte hätten „mehrfach eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln und gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und dadurch Fehler begangen, die aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheinen, weil sie einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürften“. Es sei „nicht völlig unwahrscheinlich, dass durch zeitnahe Zuziehung eines Kollegen/einer Kollegin aus der Klinik für Intensivmedizin, die über Erfahrung bei der Behandlung septischer Krankheitsbilder verfügen und Maßnahmen zeitnah ausführen können, der Tod der Frau Silja Greuner hätte vermieden werden können“.

Mittlerweile befasst sich nun bereits der vierte Sachverständige mit dem Tod von Maxim und Silja Greuner – im Auftrag des Landgerichts Hamburg. Während die Suche nach der Wahrheit also zu einem Gutachterstreit wird, berührt der Fall Greuner nach Einschätzung von Experten wie Prof. Reinhart von der Sepsis-Stiftung zumindest indirekt auch drei Themen, die grundsätzliche Bedeutung haben: die in Deutschland aus seiner Sicht nicht sonderlich starken Patientenrechte, das Fehlermanagement deutscher Kliniken – und die erstaunliche Tatsache, dass in diesem Land noch immer so unnötig viele Menschen ihr Leben durch zu spät erkannte Blutvergiftungen verlieren.

Ärztekammer-Präsident Emami sieht Nachholbedarf beim Thema Sepsis

„Es sterben deutlich mehr Menschen an einer Sepsis als an Herzinfarkten oder Schlaganfällen“, sagt Prof. Reinhart. In Australien habe man mit gezielten Schulungsprogrammen eine Halbierung der Sepsissterblichkeit erreicht. Und Schweden zeige, „wie wichtig die Früherkennung und Behandlung als Notfall“ sei. Das Land verfüge im Vergleich zu Deutschland lediglich über ein Fünftel der Intensivtherapiebetten, gerechnet auf die Bevölkerung, so Reinhart. „Trotzdem ist die Sepsissterblichkeit in Schweden nur halb so hoch wie bei uns.“ Es sei dringend notwendig auch in Deutschland Ärzte, Pfleger, aber auch die Bevölkerung in der Erkennung der frühen Warnzeichen zu schulen. 

Auch der Präsident der Ärztekammer Hamburg, Pedram Emami räumt ein, dass Deutschland beim Thema Sepsis „in der Tat Nachholbedarf“ habe. Deswegen gebe es „seit 2021 die Kampagne ‚Deutschland erkennt Sepsis‘, die bundesweit mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema schaffen soll“. Es gehe darum, diese „tückische Krankheit rechtzeitig zu erkennen“, sagte Emami dem Abendblatt. „Allerdings befinden wir uns auch in einem Zwiespalt. Wenn wir zu schnell zu häufig bei dem leisesten Verdacht mit Antibiotika behandeln, entwickeln die Erreger immer schneller Resistenzen und manche Infektionen sind dann irgendwann nicht mehr behandelbar.“

Witwer Joachim Greuner engagiert sich nach seinem tragischen Verlust mittlerweile selbst für das Thema – im Vorstand der Sepsis-Stiftung. Aber ihm geht es auch um eine generelle Stärkung der Rechte von Patienten in Auseinandersetzungen mit Kliniken. Nach den ersten Veröffentlichungen über seinen Fall hätten sich bei ihm „eine ganze Reihe von Betroffenen gemeldet, die auch entsprechenden Verdachtslagen bezüglich ihrer Behandlungen im UKE geäußert haben“, sagt Greuner. „Das UKE ist zweifelsohne eines der führenden Krankenhäuser in Deutschland. Leider scheint die Geschäftsführung diesen Maßstab nicht anzulegen, wenn es um die eigene Fehlerkultur geht.“ 

Experten fordern bessere Fehlerkultur – Ärztekammer sieht Kliniken auf gutem Weg

Experten fordern schon lange, dass Kliniken offener und selbstkritischer mit Fehlern umgehen sollten – auch um daraus systematisch für die Zukunft zu lernen. „In der zivilen Luftfahrt hat sich durch die Einführung von anonymen Berichtssystemen über kritische Vorkommnisse und Beinahe-Zwischenfälle die Zahl der Todesfälle dramatisch reduziert“, sagte Prof. Reinhart, Vorstand der Sepsis-Stiftung. „In der deutschen Medizin werden diese Systeme im Gegensatz zu anderen Ländern derzeit ungenügend genutzt. Da geht es zu oft darum, Schuld von sich zu weisen, statt aus Fehlern zu lernen.“

Ein zentrales Problem: Wer persönlich haftet oder wegen eines eingeräumten Fehlers harte berufliche Konsequenzen befürchten muss, kann sich womöglich gar nicht offen selbstkritisch äußern. „Wo immer Menschen handeln, passieren Fehler – da sind Ärzte keine Ausnahme“, sagt Ärztekammer-Präsident Emami. „Das Fehlermanagement in deutschen Kliniken funktioniert sicher noch nicht so gut, wie es wünschenswert wäre, aber wir sind auf einem guten Weg.“ 

„Bei einer offenen Fehleranalyse darf sich niemand angefasst oder beleidigt fühlen“

Wichtig sei es, bei der Fehleranalyse Emotionen hintanzustellen, so Emami. „Es darf also nicht darum gehen, dass sich jemand durch das Feststellen eines Fehlers angefasst oder beleidigt fühlt.“ Anderseits müsse man für eine solche Kultur der Offenheit auch dazu kommen, dass ein Fehler nicht dazu führe, dass eine Karriere damit beendet sei „oder jemand wie in den USA persönlich mit seinem gesamten Vermögen haftet und damit oftmals ruiniert wäre“.

Bei alldem ist auch die Politik gefragt. Nicht nur, weil sie die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Kliniken setzt. Auch weil sie oft direkt beteiligt ist. In Hamburg etwa sitzt die Grünen-Wissenschaftssenatorin und Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank dem Kuratorium des UKE vor, ist also quasi Aufsichtsratsvorsitzende des Klinikums. 

Joachim Greuner hat Fegebank vor gut zwei Jahren eine Mail geschickt und um ein persönliches Gespräch gebeten. Dazu ist es nie gekommen. Allerdings betont die Wissenschaftsbehörde, dass es mehrere Gespräche zwischen der Leiterin der Präsidialabteilung und einer weiteren Führungskraft der Behörde und Joachim Greuner gegeben habe. „Auch von Seiten des UKE gab es ein Gesprächsangebot“, so die Behördensprecherin. „Ein Gespräch ist letztlich nicht zustande gekommen.“

UKE: Opposition fragt nach der Verantwortung von Senatorin Fegebank

Inzwischen hat der Tod von Silja Greuner auch die Bürgerschaft beschäftigt. Die CDU stellte eine Große und eine Kleine Anfrage an den Senat zu dem Fall, zum Fehlermanagement und zum Umgang der Wissenschaftssenatorin mit möglichen Fehlern im UKE. So wollte sie etwa wissen, wie oft der Senat Behandlungsfehler oder Todesfälle „als Grundlage genutzt“ habe, „um auf die Patientensituation am UKE einzuwirken“.

Antwort des Senats: „Die zuständigen Behörden wie auch die Vorsitzende des Kuratoriums des UKE haben von keinen Fällen erfahren, in denen sie hätten eingreifen oder tätig werden müssen oder die als Anzeichen eines Organisationsfehlers oder Systemversagens hätten bewertet werden und mögliche Maßnahmen hätten auslösen können.“

Joachim Greuner kritisiert den Umgang der Politik mit dem Thema. „Es entsteht der starke Eindruck, dass Frau Fegebank an einer Aufarbeitung der Missstände im UKE kein Interesse hat“, sagt er. „Warum das offenbar so ist, kann ich nicht beurteilen, aber ich denke, dass die Hamburger Bürger ein Recht darauf haben zu erfahren, wie häufig Haftungsfälle in dieser öffentlich-rechtlichen Einrichtung stattfinden.“

Fegebank selbst äußerte sich auf Abendblatt-Nachfrage nicht zu diesen Vorwürfen, auch nicht zu der Frage, ob der Fall Greuner Thema im Kuratorium des UKE war und welche Konsequenzen daraus möglicherweise gezogen wurden. Ihre Behördensprecherin aber versicherte, dass sich das „Risikomanagement am UKE streng an der Handlungsempfehlung ‚Anforderungen an klinische Risikomanagementsysteme im Krankenhaus‘ des Aktionsbündnisses Patientensicherheit“ orientiere. „Regelungen, Schulungen sowie Ersteinschätzung von Notfallpatientinnen und Notfallpatienten, die – möglicherweise unerkannt – an einer Sepsis erkrankt sind, werden fortlaufend geprüft und angepasst“, so Fegebanks Sprecherin.

„Trotz dieser Vorkehrungen bleibt die Sepsis so gefährlich, weil sie innerhalb weniger Stunden zum Tode führen kann.“ Die Todesfälle von Silja Greuner und ihrem ungeborenen Kind seien „ein zutiefst tragisches Ereignis“, sagte die Sprecherin. „Die Senatorin und die Behörde sprechen den Angehörigen und Freunden erneut ihr tief empfundenes Mitgefühl aus.“

UKE äußert sich nicht – mit Verweis auf das laufende Verfahren

Das UKE selbst hat auf eine detaillierte Anfrage des Abendblatts zum Fall Greuner, zu Fehlermanagement und Sepsis-Prävention lediglich mitgeteilt, dass es sich zu laufenden Verfahren grundsätzlich nicht äußere. Auch die Ärztekammer gibt keine Auskunft zu der Frage, ob sie standesrechtliche Verfahren gegen die Ärztinnen und Ärzte eingeleitet habe, die am 22. und 23. Mai 2019 womöglich tödliche Fehler machten. 

Klar ist: Es würde niemandem helfen, wenn schließlich immer mal einzelne Ärzte büßen müssten für Schwächen eines gigantischen Systems. Das ist auch nicht das, was Joachim Greuner will. Er will, dass sich etwas Grundsätzliches ändert und die Patienten den großen Kliniken und den Institutionen der Ärzteschaft nicht mehr so ohnmächtig gegenüberstehen.

„Joachim Greuner kämpft auch für Verbesserungen in deutschen Kliniken“

„Leider sind 95 Prozent der Patienten gar nicht in der Lage, sich bei offenkundigen Fehlern von Kliniken zur Wehr zu setzen. Der Patientenschutz und die Patientenrechte in Deutschland müssen endlich gestärkt und die Beweislast umgekehrt werden – so wie es auch in anderen Ländern ist“, sagt Prof. Reinhart von der Sepsis-Stiftung.

„Joachim Greuner muss man dankbar sein, dass er trotz seines tragischen Verlustes die Kraft gefunden hat, den Kampf gegen die übermächtigen Institutionen aufgenommen zu haben. Denn er kämpft letztlich nicht nur für sein Recht, sondern auch dafür, dass sich die Lage in deutschen Kliniken endlich verbessert – und es nicht mehr so viele unnötige Todesfälle wie den seiner Frau und seines Sohnes geben muss.“ 

Wo sich Silja Greuner mit den Streptokokken infizierte, die sie und ihr Kind töteten, wird man wohl nie erfahren. Vielleicht war es am Flughafen, vielleicht kamen die Erreger aus der Kita des älteren Sohnes. Sinnlos, darüber zu grübeln.

Trauer: Vater und Sohn besuchen ihre beiden Toten im Ruheforst Kummerfeld 

Wenn der jetzt sieben Jahre alte Niklas Greuner heute mit seinem Vater ans Grab seiner Mutter und seines Bruders im Ruheforst Kummerfeld geht, versucht Joachim Greuner dem Ganzen nach all den Jahren etwas Leichtigkeit zu geben, ein wenig Normalität. Eher wie ein Waldspaziergang soll der Besuch des Grabes wirken.

Niklas erinnert sich nicht an das, was am 23. Mai 2019 geschah, er erinnert sich auch nicht an seine Mutter. „Das ist traurig“, sagt Joachim Greuner. „Aber vielleicht ist es besser für ihn.“

Dieser Text ist auf einer Doppelseite im „Hamburger Abendblatt“ am 18. August 2023 erschienen. Das PDF der Doppelseite findet sich hier.

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