Schulreform mit schweren Geburtsfehlern

Lange wurde der Widerstand gegen die schwarz-grüne Hamburger Schulreform zur Einführung der sechsjährigen Primarschule als „Gucci-Aufstand“ diskreditiert. Jetzt aber haben mehr als 184.000 Hamburger gegen das wohl wichtigste Projekt des schwarz-grünen Senates unterschrieben – eine rekordverdächtige Zahl. Ole von Beust und Christa Goetsch müssen ihren Reformeifer bremsen. Ein Kommentar.

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Der überragende Erfolg des Volksbegehrens gegen die schwarz-grüne Schulreform zeigt vor allem eines: Der Senat hat den Bezug zur Stimmungslage der Menschen in der Stadt verloren. CDU-Bürgermeister Ole von Beust und seine grüne Stellvertreterin Christa Goetsch haben lange so getan, als käme der Protest gegen die von ihnen als bildungspolitische Erlösungsformel gepriesene sechsjährige Primarschule allein von ein paar gut betuchten Familien aus den Elbvororten. So entstand der abfällige Ausdruck des „Gucci-Aufstandes“. Im Rathaus rechnete man mit einem bestenfalls knappen Erfolg des Begehrens. Welch grandiose Fehleinschätzung!

Die Wahrheit ist: Der Versuch, eine Schulreform in größter Eile den Eltern, Schülern und Lehrern aufzuzwängen, ist schon jetzt gescheitert. Das hat, unabhängig davon, ob die Einführung der weltweit üblichen sechsjährigen Grundschule sinnvoll ist oder nicht, vor allem drei Ursachen.

Erstens ist diese Schulreform nicht wirklich demokratisch legitimiert. Die CDU hat im Wahlkampf mit der Verteidigung der Gymnasien geworben, die GAL mit dem neunjährigen gemeinsamen Lernen. Die Primarschule wurde nicht in erster Linie aus neuen pädagogischen Erkenntnissen oder einem breiten Konsens (wie das zunächst angestrebte Zweisäulenmodell) geboren – sondern aus einem machterhaltenden Koalitionskompromiss. Das erweist sich als kaum heilbarer Geburtsfehler.

Zweitens fällt die Umsetzung in eine Phase größter Haushaltssorgen. Dass in manchen Schulen mit Unterricht in Containern geplant werden soll, ist keine Verbesserung gegenüber dem Status quo.

Drittens hat Schulsenatorin Goetsch, die ihre Reform mit einem bisweilen missionarisch wirkenden Eifer vorantreibt, bisher wichtige Fragen nicht beantwortet. Was, zum Beispiel, soll es einem begabten türkischstämmigen Kind auf der Veddel nützen, wenn es noch zwei Jahre länger in einer Schulklasse sitzen muss, in der 80 Prozent Migrantenkinder lernen und in der das Sprachniveau dementsprechend niedrig ist? Eine stärkere individuelle Förderung könnte der Senat auch ohne eine Strukturreform haben – und zwar billiger, vielleicht sogar effektiver.

Ganz gleich, wie man zur Primarschule steht, eines muss man jetzt vom Senat verlangen: Die Reform muss so entschleunigt werden, dass sie bei erfolgreichem Volksentscheid sofort zu stoppen wäre. Der bildungspolitische Glaubenskrieg darf nicht in einer verwüsteten Schullandschaft enden.

Erschienen am 18. und 19. November in WELT ONLINE und WELT. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns WELT-Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

Ein Kommentar

  1. „Der bildungspolitische Glaubenskrieg darf nicht in einer verwüsteten Schullandschaft enden.“

    Das ist möglicherweise ein von einigen Beteiligten gewünschtes Ziel; die Verelendung des öffentlichen Schulwesens.
    Alternativ stehen den Kindern privilegierter Familien zukünftig vermehrt Privatschulen zur Verfügung, deren Absolventen sich auf privaten Universitäten auf die nur begrenzt zur Verfügung stehenden attraktiven Jobs vorbereiten. Das gilt dann für ca. 30% der Bevölkerung. Das untere Drittel ist eh bereits abgehängt. Beim mittleren Drittel wird gekippelt, ob der Sprung nach oben gelingt oder zum Rutsch nach unten führt.. Die soziale Spaltung schreitet voran.
    Weshalb für Situationen qualifizieren, die gar nicht mehr zur Verfügung stehen?
    Die Ziele von Frau Goetsch, verbunden mit mehr Chancengleichheit für alle, führen doch an der Realität vorbei. Das weiß von Beust. Sein Ziel ist die Bildung echter Elite-Kader – ein Blick nach GB oder US zeigt, wie`s funktioniert.

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