Mein Hamburger Lieblingsort:

ein fruchtbares Möbel am Wasser

In einer Serie stellen WELT-Mitarbeiter ihren Lieblingsort in Hamburg vor – erzählen Persönliches, Skurriles und Überraschendes. Teil 16 widmet Jens Meyer-Wellmann einer Bank an der Alster.

Natürlich: Früher war das Gras grüner, der Kohl fetter, und öffentliche Sitzmöbel im Freien sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. Das gilt besonders für eine Bank an meinem Lieblingsort, einem kleinen Landvorsprung am Alsterufer der Schönen Aussicht, etwa hundert Meter neben dem Café „Hansa-Steg“. Damals, weit zurück im letzten Jahrtausend, stand dort, wenn mich meine Erinnerung nicht behumpst, eine alte, mit eingeritzten Herzchen übersäte Sitzbank, kaum einen Meter entfernt vom Wasser. Sie duckte sich hinter ein hohes wildgrünes Gestrüpp, dessen sich noch kein Großstadtgärtner angenommen hatte, sodass, wer hier Platz nahm, von der Straße in seinem Rücken aus nicht zu sehen war. Vorne das Wasser, jenseits davon die leuchtende Stadt und ringsherum nichts als wildes Grün.

Früher schützte hohes Gestrüpp die Geheimnisse dieses Ortes, der Bank an der Schönen Aussicht. Foto: Bertold Fabricius - www.pressebild.de
Früher schützte hohes Gestrüpp die Geheimnisse dieses Ortes, der Bank an der Schönen Aussicht. Foto: Bertold Fabricius

Bisweilen tranken Obdachlose hier ungestört ihren Fusel und ließen, während sie über das Glück des offenen Himmels philosophierten, den Blick über das Panorama ihrer Stadt gleiten: links die Kirchen, das Rathaus, mittig die Brücken, dann das herausragende Hotel und der schlanke Fernsehturm.

Wer auf meiner Bank saß, der saß zugleich mitten in der Großstadt und in größter Abgeschiedenheit. Die Geräusche der Autos, Busse und Bahnen, die nach Sonnenuntergang als rote und weiße Punkte über die Kennedy- und Lombardsbrücke schwebten, drangen höchstens als sanftes Gemurmel über die Alster und wurden allenthalben vom Plätschern des Wassers oder dem Quaken rabiater Erpel übertönt.

Ein guter Ort, um ein Kind zu zeugen

Natürlich war dies ein Ort, den man, wenn man sich nicht gerade tiefsinnige Gedanken zu machen gedachte, nicht unbedingt allein aufsuchte. Meine Bank war eine Bank, die (wie fast jede Bank) nach mehr als einem Menschen verlangte, nach einer Gemeinschaft, einem Paar, nach Liebe. Und so kam es, dass ich hier, mit Blick auf die Türme der schlafenden Hansestadt, auf meiner Bank, unter der sicher noch die eine oder andere leere Flasche Amselfelder von den Vorbesetzern lag, meinen ersten Sohn zeugte. Nachher habe ich ein Herz in die Lehne geritzt, und die Frau, der ich Hamburgs schönsten Platz gezeigt hatte, geheiratet. Das ist alles, zugegeben, ziemlich pathetisch und außerdem erfunden. Aber es könnte die Wahrheit sein, und es ist auch nicht weit von ihr entfernt.

Tatsächlich habe ich auf dieser Bank vor vielen Jahren mit einer mir, als wir uns setzten, beinahe noch fremden Frau gesessen, deren Lachen sich schon bald über das wilde Gras senkte und die wütenden Erpel besänftigte. Wir haben damals nicht über Politik geredet und später geheiratet. Heute würde ich gerne einmal mit meinen beiden Söhnen eine Nachtfahrt an die Schöne Aussicht unternehmen, um nachzuholen, was ich damals in Wahrheit versäumt habe: das Herzchen ins Holz zu machen. Das aber geht nicht mehr. Erstens finden meine Söhne Herzchen unerträglich peinlich, und außerdem ist meine Bank längst abgeräumt.

Dann aber kamen die Stadtplaner

Irgendwann muss ein Stadtplaner meinen Lieblingsort entdeckt und ihn zur zeitgemäßen Umgestaltung freigegeben haben. Erst wurde das Grün niedergemäht, dann der Boden geebnet und schließlich hat man drei schmucke neue Bänke aufgestellt. Seither ist es vorbei mit der romantischen Abgeschiedenheit, die heimatlosen Philosophen sind vertrieben, aber der Ausblick ist geblieben.

So gehört dieser Ort noch immer zu den schönsten Plätzen der Stadt. Auch heute kann er, trotz allem, am späten Abend einen Hauch von Romantik verströmen. Denn auch die neuen Bänke tun, fern von der Geschäftigkeit der Stadt und doch mitten in Hamburg, genau das, was alle Bänke dieser Welt immer tun werden: Sie rufen nach Pärchen. Und bisweilen begründen sie eine fruchtbare Liebe.

Erschienen am 10. April in WELT und WELT ONLINE. Foto: Bertold Fabricius – www.pressebild.de. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

Ein Kommentar

  1. Ich kann mich auch noch an die Bank erinnern.
    Schade, daß sie nicht mehr da ist.
    Aber es wundert mich nicht. Schon damals war ich irgendwie verwundert, wie ein solcher „Dornröschen-Ort“ sich mitten in der Stadt an einem der schönsten Stellen der Aussenalster halten kann.

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