Verwandlungen ohne Toupet

Es ist Zeit, Waschräume in den U-Bahn-Wagen einzuführen. Rasierspiegel wären auch prima.

Alles immer zack, zack, keine Zeit für Muße, also multitasken wir uns durch den Tag. Auch diese Kolumne befasst sich zwecks Zeitersparnis mit allem gleichzeitig: Glatzenbildung, Lippenstift, Bürgermeister und Nahverkehr.

Fangen wir irgendwo an und stellen uns eine junge Frau vor, sagen wir 22, mit langen blonden, aber ungekämmten Haaren, einem hübschen ungewaschenen Gesicht nebst vollen, aber trockenen Lippen. Diese Frau taucht neuerdings jeden Morgen neben mir in der U-Bahn auf und nutzt die Fahrt von irgendwo im Norden bis in die Innenstadt, um sich von einem verschlafenen Mädchen in einen Vamp zu verwandeln. Die Metamorphose beansprucht etwa zehn Stationen und beginnt mit dem energischen Bürsten der Haare (deren widerborstigste vor meinen Füßen landen). Es folgt das Pudern und Rougieren, das Bepinseln der Lider und Bemalen der Lippen. Am Ende, parallel zum prüfenden Blick ins spiegelnde iPhone, eine Dröhnung Haarspray, die ich meist unwillkürlich auf Lunge nehme.

Wenn es wärmer wird und die Zeit noch knapper, wird sie sich auf der Fahrt die Achselhaare oder die kurzberockten Beine rasieren. Man weiß es nicht, es ist ja nicht verboten, solange man dabei nicht raucht.

Vielleicht sollte auch ich lieber 15 Minuten länger schlafen und mich in der Bahn rasieren, Kinn, aber auch Kopf, was ich seit Jahren zu tun pflege, womit wir bei der Glatze wären und beim neuen Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz, dem Hoffnungsträger der deutschen Sozialdemokratie, der ja auch eine trägt. Ich bin froh, dass wir diesen Regenten ohne Toupet haben, einen, der sich traut, chichifrei zu regieren. Der es wagt, so langweilig zu sein, dass man weiß, hier ist nichts zu befürchten, es wird einfach nichts passieren, sorge dich nicht und schlaf ruhig weiter. Wenn man denn könnte. Aber schon kommt die Bahn. Zeit fürs Nägelschneiden und Schuheputzen.

Erschienen am 26. März 2011 in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

 

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