Noch alle beisammen?

Der wahre Stress wartet nicht im Büro. Der Event-Wahn in der Freizeit macht viel kränker. Wie wär’s mit einer neuen Kultur des Rückzugs?

Ja, ja, ich weiß, auch morgen geht wieder die Welt unter. Wie seit Jahren jeden Tag. Entweder ist wieder Euro oder Atom oder Regensommer.

Nebenbei leiden wir alle unter gemeingefährlicher Arbeitsverdichtung und Burnout oder darunter, dass es jetzt Handys und E-Mails und all diese furchtbaren Dinge gibt und wir alle immerzu füreinander erreichbar sein müssen. Weltenkrise und Bürostress machen uns kaputt.

Wirklich? Von wegen! Die wahre Folter beginnt erst, wenn wir das Büro verlassen haben, die Glotze aus ist und wir all die journalistischen Hysteriker und Internet-Trolle und auch unsere Chefs auf allen Kanälen abgeschaltet haben.

Dann nämlich fängt der reale Freizeitstress an, der Event-Terror, der Entspannungs-Zwang, der Beisammenseinwahn.

Das nette, wahlweise „gemütliche Beisammensein“ findet nach dem Fußballspiel des großen Sohns statt, im Anschluss ans Tennis-Punktspiel, nach der wöchentliche Aufführung der Theater AG des Jüngeren, beim EM-Spiel, dem monatlichen Gartenfest des Nachbarn, beim Grillen mit der Schulklasse des Mittleren oder anlässlich des netten Geschäftsbesuchs aus Brasilien bei einzweidrei Gläschen Caipi.

Kein Tag mehr ohne Beisammensein mit sympathischen Menschen, von denen man den einen oder anderen lieber im Fernsehen sähe, nur um seine Reden über Wetter, Euro und Arbeitsverdichtung etwas leiser drehen zu können.

Seit Wochen schon plane ich, mir irgendwann einen Tag eventfrei zu nehmen. Mit einem Buch. In der Hängematte. Wortlos ohne Grillwurst.

Was für ein Traum: ein durch und durch gemütliches Alleinsein.

Erschienen am 16. Juni 2012 in WELT und WELT ONLINE in der Rubrik „Hamburger Momente“. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

 

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