Multitasking, Großraumbüro und Burnout: Auf der Suche nach dem Aus-Knopf

Das moderne Büro kennt keinen Feierabend mehr. Kommuniziert wird nonstop. Der Hamburger Senat plant jetzt eine Schutzverordnung, die den Arbeitsalltag radikal verändern könnte – in ganz Deutschland.

Wir müssen uns Adam als einen kränklichen Depressivling vorstellen. Kein Job, keine Herausforderung, kein Ziel. Bore out im Paradies: der nackte Langeweiletod im Abendrot. Dummerweise sprach Gott nach der leidigen Apfelsache aber nicht: „Du sollst künftig einer sinnstiftenden Arbeit nachgehen.“ Nein, die Rede war von Dornen, Disteln, Mühsal und Schweiß. Und siehe: Der Mensch war unter Stress gesetzt.

Dass wir im Paradies glücklicher gewesen wären, ist allerdings keinesfalls ausgemacht. Noch heute zeichnen unterschiedlichste Studien ein einheitliches Bild: Wer arbeitet, und sei es auch unter Mühsal, ist zufriedener mit sich und der Welt – und er ist meist auch gesünder. Menschen ohne Aufgabe werden schneller krank und depressiv.

Das ist allerdings nur die eine Hälfte der Wahrheit. Denn zugleich hat der Mensch sich selbst die Arbeit immer wieder so eingerichtet, dass sie für viele zu einem Kreuz wurde. Nach der echten Sklaverei kam die Lohnsklaverei der frühen Industrialisierung. Und in unserer Zeit ist er dabei, sich selbst zum Digitalsklaven zu machen. Die Arbeitswelt verändert sich so radikal und schnell wie nie zuvor. Und wieder scheint der Mensch dabei das Augenmaß zu verlieren. Die umfassende Digitalisierung unserer Welt führt dazu, dass wir immer erreichbar sind und uns auf nichts mehr richtig konzentrieren können, weil Informationen im Sekundentakt aus unterschiedlichen Kanälen auf uns einströmen: Aus Telefonen, Mails, sozialen Netzwerken, fast antik anmutenden Faxgeräten und hochmodernen Tablets sprudeln ununterbrochen Anweisungen, Aufgaben und Anfragen.

Mitarbeiter haben mit Großraumbüros zu kämpfen

Hinzu kommt, dass viele Firmen dazu übergegangen sind, ihre Mitarbeiter in Großraumbüros zu platzieren, in denen sie gezwungen sind, auch die Kommunikation ihrer Kollegen unentwegt mitzuverfolgen. Man erhoffte sich ein Mehr an Kreativität und Effektivität – außerdem spart die Auflösung der Einzel- oder Zweierbüros teure Büromieten. Nebenwirkung: ein höherer Krankenstand und eine höhere Fehlerquote.

„Die menschliche Verarbeitungskapazität ist an ihre Grenzen gekommen“, sagt Dirck Süß, Chefvolkswirt der Hamburger Handelskammer. „Immer mehr Menschen brechen unter dieser Last zusammen.“ Die Unternehmen müssten dieser Tatsache noch deutlich mehr Rechnung tragen. Selbst bei einem ausschließlich vom Datenfluss lebenden Unternehmen wie Google haben Mitarbeiter bei der jüngsten internen Umfrage in Hamburg als ein Problem den „Information-Overload“ angegeben, wie Personalchef Frank Kohl-Boas berichtet. Auch Nerds sind eben nur Menschen.

Nun hat auch die Politik das Problem erkannt. Der Hamburger SPD-Senat arbeitet derzeit an einer „Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastungen bei der Arbeit“. Dieser soll über den SPD-dominierten Bundesrat in den Bundestag gehen und dort, wenn sich die CDU anschließt, zum Teil der Arbeitsschutzgesetzgebung werden – mit möglicherweise revolutionären Folgen für die deutsche Bürowelt.

„Nach 16 Jahren Arbeitsschutzgesetz haben nur wenige Unternehmen eine Strategie, wie sie ihre Mitarbeiter vor Gefährdungen durch psychische Belastung schützen“, sagte Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks der „Welt am Sonntag“. „Aus meiner Sicht müssen Betriebe mehr tun, um psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz möglichst erst gar nicht entstehen zu lassen.“ Mittlerweile gebe es für fast alles Verordnungen: für gesundes Sitzen, die Einstellung von Computerbildschirmen, das richtige Heben, so Prüfer-Storcks. Nur für den Schutz vor psychischen Belastungen gebe es keine Vorgaben.

Der moderne Büroarbeiter kommuniziert pausenlos

Setzt sich die Gesundheitssenatorin durch, könnte dies gravierende Folgen für den Alltag von Millionen Büroarbeitern haben. So heißt es in Paragraf 6 des Verordnungsentwurfs, der dieser Zeitung vorliegt, dass „Störungen und Unterbrechungen der Arbeit sowie die gleichzeitige Verrichtung mehrerer Arbeiten auf ein Mindestmaß“ zu reduzieren seien. Und: „Die Arbeitsumgebung hat der Arbeitgeber so zu gestalten, dass psychische Belastung vermieden oder so weit wie möglich verringert wird.“

Auch in der Behörde weiß man, dass dies das Aus für manches Großraumbüro bedeuten könnte, das nicht nach Maßgaben des Gesundheitsschutzes konzipiert ist – etwa durch Lärmschutzkonzepte.

Aber auch das Problem der ständigen Erreichbarkeit wird in der Verordnung thematisiert. Denn mithilfe von Netbooks, Smartphones, mobilem Internet und Datenwolke kann der moderne Büroarbeiter heute an jedem Ort und zu jeder Zeit ans Werk gehen. Und er tut es auch. Schon vor dem Anwerfen der heimischen Kaffeemaschine werden die Mails gecheckt, aus dem Bad die ersten Anfragen oder Anweisungen verschickt, und der letzte Blick ins digitale Postfach wird kurz vor dem Einschlafen geworfen. 88 Prozent aller Beschäftigten waren nach einer Bitkom-Studie im Jahr 2011 auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar. Schon vor Beginn und nach Ende des offiziellen Arbeitstages kommunizierten sie mit Chefs, Kollegen oder Geschäftspartnern. Auch wenn Firmen die ständige Rufbereitschaft nicht explizit einfordern – immer mehr Angestellte fühlen sich dazu verpflichtet. Die Folge: Der Feierabend ist faktisch abgeschafft. Die Begrenzung der Arbeitszeit, wie sie Gewerkschaften über Jahrzehnte erkämpft haben, ist aufgrund der digitalen Realität längst Makulatur. Gegen den Datenfluss lässt sich schlecht streiken.

Der Senat versucht mit seiner Verordnung nun auch in Sachen Dauerbereitschaft einen Pflock einzuschlagen. „Bei flexibler Arbeitszeit und räumlicher Mobilität sind Arbeit und arbeitsfreie Zeit abzugrenzen“, heißt es in Paragraf 7 des Entwurfs. Es sei „zu gewährleisten, dass Rufbereitschaft und Erreichbarkeit begrenzt werden und ein angemessener Freizeitausgleich erfolgt“.

Informationsbeschuss wird zur Gefahr

Die jüngsten Erhebungen zeigen, dass die Dauerkommunikation tatsächlich zur Gefahr wird. Nach einer neuen DAK-Studie stehen psychische Erkrankungen erstmals auf Platz eins bei den Gründen für Krankschreibungen. Nach Befragungen, die auch die Hamburger Gesundheitsbehörde heranzieht, klagen 58 Prozent der Beschäftigten über ständige Mehrfachbelastungen durch Multitasking, und 44 Prozent sehen ihre Gesundheit durch häufige Störungen und Unterbrechungen bei der Arbeit gefährdet.

Dabei fegt der Kommunikationsorkan keinesfalls über ein junges Bürovölkchen. Im Gegenteil: Die Arbeitnehmer, die den rasantesten Innovationssturm aller Zeiten erleben, sind aufgrund der Bevölkerungsentwicklung im Schnitt älter als je zuvor in der Geschichte der Arbeit. Niemals ist den Alten so viel Flexibilität abverlangt worden wie heute.

Allerdings weiß man im Senat: Auch Arbeitnehmer wollen sich das Kommunizieren nicht verbieten lassen. Denn nicht nur böse Kapitalisten freuen sich über die schöne neue Digitalwelt. Auch Angestellte nutzen die neuen Freiheiten weidlich. Sie arbeiten heute häufiger von zu Hause als je zuvor und können auf diese Weise Beruf und Familie besser vereinbaren. Da wirkt es ziemlich vorgestrig, wenn hier und da Betriebsräte im Vorruhestandsalter jungen Müttern das Homeoffice wegen der Gefahr der Selbstausbeutung verbieten wollen.

Die Handelskammer unterstützt das Ziel des Senats

Auch Marketing- und Medienforscher Prof. Michel Clement von der Uni Hamburg betont vor allem die Chancen, die in der modernen Technologie liegen: „Die digitale Kommunikation ermöglicht eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten und -orte. Damit entstehen substanzielle Karrierechancen für die zahlreichen top ausgebildeten Mütter und Väter, die wegen der Kinder nur in Teilzeit arbeiten können“, sagt Clement. „Ohne ein vernetztes Homeoffice würden viele Arbeitnehmer ihre Karriere für die Kinder aufgeben müssen. Das wäre ein massiver Verlust für die Volkswirtschaft.“

So oder so: Letztlich lasse sich die Entwicklung sowieso nicht zurückdrehen, sagt Handelskammer-Volkswirt Süß. Also gehe es darum, sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Auch die Kammer hält das Ziel des Senats, die psychische Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, laut einer ersten offiziellen Stellungnahme denn auch für „richtig und unterstützenswert“. Den Verordnungsentwurf lehnt sie allerdings in seiner jetzigen Form ab. Er enthalte zu abstrakte Vorgaben und „gehe an der Realität in vielen Unternehmen vorbei“. Statt diesen Entwurf zu beschließen, rät die Kammer dem Senat, „Gespräche mit der Wirtschaft aufzunehmen“, um das Problem gemeinsam anzugehen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund dagegen unterstützt das Vorhaben. „Wir sind gezwungen, im Umgang mit der neuen Technik vernünftig zu werden“, sagt Gesundheitsreferentin Petra Heese.

Das glaubt auch Google-Chef Eric Schmidt. Er gibt uns Dauernutzern digitaler Geräte einen simplen Ratschlag: „Finde heraus, wo der Ausknopf sitzt.“

Erschienen am 24. März 2013 in WELT AM SONNTAG und WELT.

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