Das Corona-Versagen der Hamburger Schulpolitik

Die Hamburger Schulbehörde von Senator Ties Rabe (SPD) musste zwei Tage vor dem Lockdown am Montag einräumen, dass Digitalunterricht mit Videostreaming aus Klassenräumen nicht ohne weiteres möglich ist. Die Übertragung kollidiere mit dem Kameraüberwachungsverbot des Schulgesetzes. Auf die Frage, warum der Behörde das erst jetzt auffalle und man dieses Problem zehn Monate nach Pandemiebeginn nicht längst mit einer Klarstellung im Gesetz gelöst habe, hieß es aus der Rabe-Behörde, es handle sich um „rechtliches Neuland“. Hierzu und zur gesamten Hamburger Schulpolitik in der Coronakrise mein Leitartikel aus dem „Hamburger Abendblatt“.

Wer dieser Tage Gutes über Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) sagen will, der nennt ihn „standhaft“. Standhaft halte er gegen Bedenken von Epidemiologen und Kanzlerin Schulen offen, heißt es bisweilen. Er verteidige das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung und setze sich so besonders für Familien aus schwierigen Verhältnissen ein, deren Nachwuchs zu Hause nicht mit viel Förderung rechnen könne. Das kann man so sehen – und es ist sicher eine Hälfte der Wahrheit. Es gibt aber auch eine zweite.

Denn genauso standhaft hat Rabe monatelang die längst belegte Realität geleugnet, dass ältere Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Statt Schulen pandemiesicher zu gestalten, hat er so getan, als gebe es hier keine Infektionen. Motto: Wir machen weiter wie immer. In voller Klassenstärke, ohne Abstand, lange auch ohne Masken – Anreise in vollen Bussen. Ergebnis: An Heinrich-Hertz-Schule, Ida Ehre Schule und Schule auf der Veddel gab es in Hamburg drei der deutschlandweit größten Corona-Ausbrüche an Schulen.

Aber auch dies beeindruckte Rabe wenig. Kinder selbst würden ja nur selten schwer krank, hieß es lakonisch. Das Risiko, dass sich Kinder in der Schule infizieren und zu Hause ungewollt Eltern, Geschwister oder Großeltern anstecken, wurde nie thematisiert. Statt sich intelligente und flexible Lösungen zu überlegen und die Krise auch für einen Modernisierungsschub zu nutzen, wurden lieber die Hygieneregeln und Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts stoisch ignoriert. Geschichtslehrer Rabe belehrte die oberste Behörde für den Infektionsschutz sogar noch, ihre Vorgaben für sicheren Unterricht seien „seltsam“. Auch bei schnell steigenden Infektionszahlen weigerte sich der Senator zunächst wochenlang, eine Maskenpflicht für die Mittelstufe einzuführen. Erst im November gab er nach – viel zu spät.

Bei all dem geht es gar nicht um die Frage, ob man Schulen schließen soll – im Gegenteil. Gerade weil die Schulen unbedingt offen bleiben sollten, muss man sie sicherer organisieren. Zum Beispiel, indem man Schüler, die zu Hause nicht gut lernen können, in der Schule unterrichtet – und andere per Livestream von zu Hause zuschaltet. So würde man Gruppen verkleinern. Dafür aber hätte Rabe seit März die technischen und rechtlichen Voraussetzungen schaffen müssen. Das aber hat er nicht getan, wie Erfahrungen mit dem Homeschooling zeigen. Da stürzt Software immer wieder ab, da stocken Videos, weil das Schulnetz zu schlecht ist – und manche Lehrer scheitern schon am Einschalten einer Kamera. Willkommen im digitalen Deutschland 2020. Wenn ein Blick auf die Schulen ein Blick in die Zukunft eines Landes ist, kann einem dieser Tage wirklich mulmig werden.

Nun zeigt sich auch noch, dass Rabe und die rot-grüne Koalition es versäumt haben, die rechtlichen Voraussetzungen für einfachen Digitalunterricht zu schaffen. Die Übertragung aus dem Klassenraum ist nach Einschätzung der Schulbehörde nicht möglich. Möglicherweise kollidiere sie mit dem Verbot der Kameraüberwachung im Schulgesetz, heißt es. Fragt sich, warum das erst zwei Tage vor dem Lockdown auffällt. Man hätte dieses Problem seit Monaten durch eine Klarstellung im Gesetz lösen können.

Bei alldem drängt sich immer stärker ein Verdacht auf: Dass die Kultusminister so lange so starr am vollen Präsenzunterricht ohne Abstand festhalten, hängt womöglich nicht ausschließlich mit ihrem Kampf für gerechte Bildung zusammen. Sondern vor allem damit, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt – weil der standhafte Herr Rabe und seine Kollegen seit dem Frühjahr ihre Hausaufgaben nicht machen.

Erschienen am 15. Dezember 2020 als Leitartikel im „Hamburger Abendblatt“.

8 Kommentare

  1. Hahahaha. Es ist so erbärmlich. Da hat man ein 3/4 Jahr Zeit, um wenigstens ein bisschen Digitalisierung nachzuholen und passiert ist … nichts. Nicht nur mit Ansage gegen die Wand, sondern auch noch Gas gegeben.

    In Baden-Württemberg wurde schon sehr früh BigBlueButton für alle ermöglicht. Warum passiert in Hamburg so wenig?

  2. § 31 (4) Hamburgisches Schulgesetz besagt, dass „(d)ie Videobeobachtung und Videoaufzeichnung von Schulräumen und schulischen Freiflächen (Videoüberwachung) und die Verarbeitung der Daten (..) nur bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 9 des Hamburgischen Datenschutzgesetzes vom 18.
    Mai 2018 (HmbGVBl. S. 145) in der jeweils geltenden Fassung zulässig“ (ist). Eben dieser § 9 besagt: (1) Die Beobachtung öffentlich zugänglicher Bereiche mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videobeobachtung) ist nur zulässig, soweit und solange sie 1. zur Aufgabenerfüllung öffentlicher Stellen oder 2. zur Wahrnehmung des Hausrechts erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen“.

    Nur geht es beim Streaming von Unterricht nicht um Videoüberwachung. Wenn man die Überwachung durch Videoaufzeichung so weit auslegt, wie es die Schulbehörde hier scheinbar neuerdings tut, dann fragt man sich, warum die realen Videoaufzeichnungen durch das unkontrollierte Benutzen von videoaufnahmefähigen Smartphones, bislang nicht mit Verweis auf die hier zitierte Regelung des HmbSchG unterbunden wurden. Womöglich müssten man dann sogar das Mitführen von Geräten, mit der Möglichkeit Videos zu produzieren, ganz unterbinden, um sicherzustellen, dass „Videobeobachtung und Videoaufzeichnung von Schulräumen und schulischen Freiflächen“, nicht unkontrolliert und ungenehmigt stattfinden.

  3. Man fragt sich, wo hier das Problem liegt?
    Wem wird irgend ein Recht angetastet, wenn aus dem Klassenraum einfach nur die Tafel gestreamt wird? Oder wenn man mit einem fähigen overhead-Projektor das Blatt, das auf des Lehrers Tisch liegt und mit dem Unterrichtsinhalt befüllt wird, ins Internet streamt? Da muss nicht mal jemand sein Gesicht in die Kamera zeigen. Aber wahrscheinlich liegts einfach daran, dass unser Internet in seiner Kapazität so irgendwo zwischen Schwellen- und Entwicklungsland ist, zusammen mit der technischen Ausstattung der Schulen. Und wenn jetzt wirklich alle Schulen anfingen, zu streamen, eyeyey, dann geht das ganz in die Knie. Und dann müßte sich vielleicht jemand mal erklären, zumindest immerhin so viel, dass Internet eben Neuland ist. Das Videoverbot halte ich da doch für vorgeschoben. Hier können derzeit elementare Freiheitsrechte per Verordnung von einer Woche auf die andere eingeschränkt oder ausgesetzt werden, Milliarden in Windeseile genehmigt. Aber so eine Regelung wegen Videos an Schulen ist unabänderbar, seit Monaten? Ja, also ver…schen kann man sich doch wirklich alleine. Das ist doch entweder Arbeitsverweigerung, Überforderung oder im schlimmsten Fall irgendwas zwischen Arglist und Boshaftigkeit (ich tippe auf eine Mischung aus Faulheit und Überforderung).

    Der Lockdown wird vermutlich nicht viel bringen, denn im Januar ist immer noch Winter und die Leute werden sich wieder zwecks Erwirtschaftung der Steuern in die Sardinenbüchsen des ÖPNV begeben und die Schüler in die Schulen. Das beste hieran ist: von beidem, ÖPNV wie Schule, wird uns erzählt, die haben gar keine Auswirkungen auf das Geschehen, ebenso wie der Arbeitsplatz. Allein: seit Wochen ist überhaupt nichts anderes mehr zugänglich als Arbeitsplatz, Schule und ÖPNV, die Zahlen steigen. Klingt schon etwas nach Krieg ist Frieden, wenn einer einem dann erzählen will, die einzigen noch stattfindenden Massenveranstaltungen hätten mit der Sache so gar nichts zu tun.
    Nun ja, wahrscheinlich kommt es einfach aus der Steckdose, dieses Virus. Im Gegensatz zum Internet an den Schulen, das kommt nirgends raus.

    Aber: das Volk hat so gewählt und ausweislich der Umfragen ist es voll und ganz zufrieden. Von daher: warum sollte sich da auch ein Herr Raabe mehr anstrengen als nötig? Wenn jetzt schon alle zufrieden sind und ein bisschen emotionales Geschwalle den letzten Kick gibt, dann ist doch alles in Butter und wer das anders sieht, ist nur ein Defätist.

  4. Danke für diesen mutigen Artikel, den ich als Betroffener, ich war bis Herbst 2020 als Lehrer an einer hamburger Schule tätig und habe dort über viele Jahre mit ausländischen Studierenden gearbeitet, nur bestätigen kann.
    Meine chinesischen Studierenden setzten mir bereits im Januar 2020 kollektiv auseinander, welche Maßnahmen zu ergreifen wären, um noch einen effektiven Unterricht durchführen zu können. Wir arbeiteten Vorschläge aus. Ich gab diese Vorschläge – gleichwohl folgenlos – an die Schulbehörde weiter, sie betrafen auch die didaktische Ausgestaltung von Fernunterricht.
    Fazit: Du sollst sie an den Früchten erkennen. Oder: Krisen räumen auf!

  5. Ich erinnere mich noch gut an die PK im Sommer, als Herr Rabe darauf hinwies, dass seine Behörde schon mindestens eine Woche vollauf damit beschäftigt sei, irgendetwas mit Musikunterricht für Grundschulen zu regeln – für so etwas wie einen pandemiegerechten Unterricht wird die Schulbehörde demnach noch ein paar Jahre benötigen. Sofern der Wille dazu vorhanden wäre.

    Interessant wird es für die Zeit nach dem Lockdown: Ist die ad hoc verordnete Aufteilung der Klassen in Kleingruppen mit maximal 12 SuS ein Vorbote auf die Umsetzung des Wechselunterrichts ab dem 11. Januar, oder ist es nur eine Nebelkerze um hinterher sagen zu können: »Wir haben es versucht, aber es funktioniert nicht. Darum schnellstmögliche Rückkehr zum Regelbetrieb.«

    Wie sollen die Schulen ab Morgen eine Aufteilung der Klassen umsetzen? Teilweise müssten Klassen gedrittelt werden, wenn die Eltern mehrheitlich Ihre Kinder in die Schule schicken. Aber Klassenräume und Lehrkräfte sind eine sehr knappe Resource, warum kalkuliert die Schulbehörde mit diesem Zielkonflikt?

    Das vorliegende Konzept sieht Wechselunterricht mit halben Klassen vor, ab Morgen gibt es nur Fernunterricht (in welcher Form?), auch für die Schüler in der Schule, die in Kleingruppen von den selben Lehrern beaufsichtigt werden sollen, die gleichzeitig den Fernunterricht geben sollen – ein einziger Irrwitz.

    Von den überholten Meinungen zur angeblichen Sicherheit der Schulen und den angeblich kaum am Infektionsgeschehen teilnehmenden Kindern (wie noch am Sonntag von unserem ersten Bürgermeister erzählt) ganz zu schweigen.

    Bitte bleiben Sie dran an diesem Desaster, so kann es nicht mehr weiter gehen.

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