Verzocken sich Olaf Scholz und die SPD mit ihrem Corona-Wahlkampf?

Man soll ja nicht Scheiße sagen, aber nun hat es sogar der Vizekanzler getan. Gleich zweimal. Ausgerechnet Olaf Scholz. Der frühere Hamburger Bürgermeister, bei dem die für Emotionen zuständigen Hirnregionen manchem schon seit Jahrzehnten als abgeschaltet galten, soll mal so richtig hingelangt haben.

Das mit der Impfbeschaffung durch die EU sei „richtig scheiße gelaufen“ habe der 62-Jährige im Corona-Kabinett gesagt, berichtete in dieser Woche die „Bild“-Zeitung“. Scholz habe außerdem deutlich gemacht, dass er „keinen Bock“ darauf habe „dass sich der Scheiß jetzt wiederholt“ – und zwar bei der Impfkampagne in Deutschland. Danach soll er sich noch wenig schmeichelhaft über EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ausgelassen haben.

Nun kann man diese neue Lust des Genossen Kanzlerkandidaten an der Fäkalsprache zwar als „Wutanfall“ deuten, wie es „Bild“ tat. Womöglich war Scholz ja auch wirklich ein bisschen sauer. Wahrscheinlicher aber ist etwas anderes: Der Frontmann der aktuellen 15-Prozent-Partei SPD ist fest entschlossen, Corona zum Thema seines bislang aussichtslosen Kampfs ums Kanzleramt zu machen. Deswegen spielt er nicht nur in Sitzungen den Scheiß-Wütenden – er lässt es auch wortgetreu die Boulevardmedien wissen. So wie er es bereits bei dem Fragenkatalog zur Impfbeschaffung getan hat, den er seinem Kabinettskollegen, CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn, via TV-Nachrichten präsentierte.

Dass es in der SPD offenbar eine klare, bundesweite Absprache gibt, in Sachen Corona nun die Union zu attackieren, zeigte sich zuletzt auch in Hamburg. So machte SPD-Finanzsenator Andreas Dressel immer wieder CDU-Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier öffentlich für Probleme bei der Auszahlung der Corona-Hilfen verantwortlich. In der vergangenen Woche postete er sogar ein Bildchen, das einen schnarchenden Altmaier mit Schlafmütze zeigte und dazu den Spruch: „Bitte bei Minister Altmaier melden, wenn die Auszahlung der Novemberhilfen verschlafen wurde.“ Dazu die Telefonnummer der Corona-Hotline des Ministeriums.

Die Kolumne im Abendblatt vom 6.2.2021

Selbst SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher, sonst die stocknüchterne Sachlichkeit in Person, attackierte via Twitter ungewohnt aufgebracht CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Gerade teilt das Bundeskanzleramt mit, dass jetzt auch die zugesagten Lieferungen der Moderna-Impfstoffe reduziert werden“, schrieb Tschentscher am vergangenen Wochenende in dem sozialen Netzwerk und fügte das Bild eines achselzuckenden Mannes hinzu. „Wie soll man da die Impfungen planen?“ Auch andere führende Hamburger Genossen monierten die schleppende Lieferung des heiß begehrten Impfstoffs – und verorteten die Verantwortung dafür bei drei CDU-Politikern: Bundeskanzlerin Merkel, Gesundheitsminister Spahn und EU-Chefin von der Leyen.

Für den Hamburger Politikwissenschaftler Prof. Elmar Wiesendahl ist das alles kein Zufall und auch keine echte Empörung, sondern der bundesweit koordinierte Auftakt der SPD in das Superwahljahr. „Scholz steckt im Dilemma. Die SPD ist festgenagelt auf 15 Prozent, auch die Nominierung zum Kanzlerkandidaten hat keinerlei Bewegung gebracht“, so Wiesendahl. „Deswegen muss er in den Angriffsmodus schalten. Ohne Attacken zu fahren, kommt man aus dieser Lage nicht heraus.“

Das Auftreten der SPD sei dabei „perfekt bundesweit konzertiert“. Scholz präsentiere Spahn den Fragenkatalog, aus den Ländern gebe es reihenweise Kritik des SPD-Führungspersonals an Merkel und Spahn – und durch den Impfgipfel am Montag habe die SPD verhindert, „dass Frau Merkel sich in die Büsche schlagen und so tun kann, als habe sie mit dem Thema Impfen nichts zu tun“, so der Politikwissenschaftler. „Das Ganze zielt ja auch nicht nur auf die Bundestagswahl, sondern auch auf die Landtagswahlen, etwa in Rheinland-Pfalz, wo die SPD ihre Macht verteidigen will.“

Auch Hamburgs Bürgermeister spiele dabei „als sachkundiger und starker Ministerpräsident seinen Part, mindestens als Querflöte“, so Wiesendahl. „Dabei geht es auch darum, Spahn zu beschädigen – der ist für die SPD ein gefährlicher Mann, denn theoretisch könnte er ja noch Unions-Kanzlerkandidat werden.“ Dabei formieren sich natürlich auch in der CDU längst die Wahlkämpfer. Und die wollen zum Beispiel in Hamburg nicht so gerne über Verzögerungen bei der Lieferung von Impfstoffen sprechen, sondern lieber über das wochenlange Chaos bei der Vergabe von Impfterminen – denn dafür ist formal der rot-grüne Senat verantwortlich, vor allem die SPD-Chefin und Sozialsenatorin Melanie Leonhard. Die Menschen wünschten sich in der Krise Zusammenarbeit und keinen Streit, ließ das neue Hamburger Führungsduo, Parteichef Christoph Ploß und Fraktionschef Dennis Thering, außerdem wissen.

Hamburgs Bürgermeister spielt kräftig mit im SPD-Wahlkampfkonzert

Riskant ist die SPD-Strategie aber auch aus einem anderen Grund. Es erscheint zum Beispiel wenig glaubwürdig, dass ein Vizekanzler sich monatelang nicht mit dem allerwichtigsten Thema in der Jahrhundertpandemie befasst haben will, nämlich der Impfstoffbeschaffung. Und falls es doch so wäre: Würde ihn so ein Desinteresse für den Kanzlerjob qualifizieren? Auch dafür, „dass sich der Scheiß wiederholt“, nämlich bei der Organisation der Impfungen, wie es Scholz fürchtet, ist in vielen Bundesländern die SPD selbst verantwortlich. Das Desaster mit nicht erreichbaren Hotlines oder Internetseiten, das seit Wochen die Älteren und ihre Angehörigen in den Wahnsinn treibt, hat auch in Hamburg vor allem die SPD zu vertreten – denn die Organisation ist Ländersache. Und hier passt eindeutig etwas nicht zusammen: Man kann sich nicht einerseits beschweren, dass es zu wenig Impfstoff gibt – dann aber noch nicht einmal in der Lage sein, wenigstens die (viel zu) wenigen Impftermine professionell zu vergeben.

Auch hier spielte der rote Peter Tschentscher in dieser Woche das Schwarz-Peter-Spiel – und ließ seinen Senatssprecher in der Landespressekonferenz auch für das Termindesaster den Bund und seine Plattformen verantwortlich machen. Mithin: Am Ende ist die SPD offenbar für gar nichts verantwortlich – nicht mal dafür, dass Hamburg mit der Organisation des Impfzentrums (wie berichtet) eine Firma beauftragte, gegen die wegen massiven Abrechnungsbetrugs im Zusammenhang mit Krebsmedikamenten ermittelt wird. Der Auftrag sei ja nicht vom Senat, sondern von der Kassenärztlichen Vereinigung (KVH) vergeben worden, hieß es dazu aus der Sozialbehörde.

Impfgipfel. Oder wie ich es nenne: SPD-Wahlkampfauftakt #bundestagswahl

Grünen-Fraktionschef Dominik Lorenzen bei Twitter

Dasselbe Spiel versuchte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer diese Woche in der Talkshow von Markus Lanz. Der Moderator fragte die SPD-Frau, warum sie nicht gewusst habe, wie weit die Impfstoffentwicklung des direkt in ihrer Landeshauptstadt Mainz ansässigen Unternehmens Biontech schon gewesen sei – und warum sie Bund und EU nicht frühzeitig darauf hingewiesen und geraten habe, sich viel von diesem Impfstoff zu sichern. Dreyers sinngemäße Antwort: Impfstoffbeschaffung sei Sache des Bundes und der EU.

Da stellt sich am Ende vor allem eine Frage: Geben Bürger bei Wahlen einer Partei die Verantwortung, die offenbar lieber von nichts etwas wissen und für nichts verantwortlich sein will?

Die Grünen sehen sich das alles derweil mit einer nicht ganz hämefreien Gelassenheit an. Schließlich könnten sie die großen Profiteure der öffentlichen Schlammschlacht in der GroKo sein. So twitterte der Hamburger Fraktionschef Dominik Lorenzen über den im Grunde komplett ergebnislosen „Impfgipfel“ am Montag: „Impfgipfel. Oder wie ich es nenne: SPD-Wahlkampfauftakt.“

„Die Grünen fallen als Opposition aus – weil sie auf Schwarz-Grün spekulieren“

Dabei fällt das Urteil des Politikwissenschaftlers Wiesendahl über die Grünen auch wenig schmeichelhaft aus. „Es sind ja offenkundig Fehler gemacht worden in der Corona-Politik und bei der Beschaffung des Impfstoffs“, so Wiesendahl. „Aber die Grünen fallen erkennbar als Opposition aus. Sie schonen Frau Merkel und die CDU, weil sie auf Schwarz-Grün spekulieren.“ Das bedeute aber nicht, dass in Hamburg nun alles friedlich bleibe.

„Auch in der rot-grünen Koalition werden die Spannungen in diesem Jahr steigen – aus mehreren Gründen“, so der Politikwissenschaftler. „Erstens konnten die Grünen sich zu Corona-Zeiten bisher kaum profilieren, weil alle in der Krise wesentlichen Senatsposten von der SPD besetzt sind – und wollen das nun nachholen. Zweitens sind wir in einem Superwahljahr, da kämpft jede Partei für sich selbst. Und drittens hat die Grünenfraktion eine neue Führung, die das alte, harmonische Eiapopeia-Spiel nicht mehr mitspielt. Da wächst also insgesamt der Druck auf dem Kessel.“

Erschienen als Kolumne „Die Woche im Rathaus“ im „Hamburger Abendblatt“ am 6. Februar 2021

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