Vom Verschwinden der Verantwortung

Immer seltener treten Politiker aufgrund eigener Fehlern zurück. Der Umgang mit den Milliardenverlusten der HSH Nordbank ist dafür nur ein Beispiel. Auch für die Kostenexplosion bei der Elphilharmonie, die Folgen des HEW-Verkaufs oder mitten in der Stadt verhungerte Kinder übernimmt niemand die Verantwortung.

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Vor ein paar Monaten hat er sich selbst als „Feuerwehrmann“ bezeichnet, den man beim Löschen nicht „erschießen“ dürfe. Natürlich hat dieses schiefe Bild den Hamburger Finanzsenator und CDU-Chef Michael Freytag nicht aus der Schusslinie gebracht. Und sie hat ihn auch nicht vor immer neuen Nachfragen zu dem Brand gerettet, den niemand gelegt haben und den er, Freytag, nun angeblich löschen will. Gemeint hat er das Debakel um die HSH Nordbank, dessen Ursachen seit vergangenem Mittwoch ein Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft ausleuchten will.

Am selben Tag, als Freytag sich einen Feuerwehrmann nannte, hat er noch einen anderen Satz gesagt, der nicht minder schief und doch erhellender war als alles andere, was bislang zu dieser Krise gesagt wurde: Wolle man anfangen, die Aufsichtsräte aller staatlichen oder halbstaatlichen Banken für die (offenkundig ungenügend geführte) Aufsicht zur Rechenschaft zu ziehen, so Freytag, müsse man ein „Massaker“ anrichten. Denn in den Kontrollgremien hätten Politiker aller Parteien gesessen. Und ein „Massaker“ nütze niemandem.

Die Logik, die in dieser Aussage steckt, ist ausgesprochen praktisch für die politische Klasse: Weil viele versagt haben, ist niemand verantwortlich. Niemand wird belangt, niemand muss um sein Amt fürchten, alle können weitermachen wie bisher, bestenfalls müssen sie für eine Weile etwas betreten dreinschauen.

Beust sagt lächelnd: „Ich war ja nicht im Aufsichtsrat“

Tatsächlich hat gemäß dieser Leitlinie in Hamburg bisher kein Amtsträger die Verantwortung für das HSH-Nordbank-Debakel übernommen. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil das Ausmaß des unter den Vorgaben der Politik angerichteten Schadens größer kaum sein könnte: 13 Milliarden Euro haben Schleswig-Holstein und Hamburg bisher für die marode Bank an Garantien und Kapital bereitstellen müssen. Das ist deutlich mehr als ein Hamburger Jahresetat, der bei gut zehn Milliarden Euro liegt.

Weit über 20 Milliarden würde Hamburg angeblich eine Pleite der Bank kosten. Das heißt: Die Geschäftspolitik dieser Bank, die sich unter den Augen und der Anfeuerung der Politik kaum noch in der regionalen Wirtschaft engagierte, dafür aber eine ganzen Batterie von Briefkastenfirmen in karibischen Steuerparadiesen gründete, droht einen reichen Stadtstaat wie Hamburg handlungsunfähig zu machen.

In Sachsen ist der Ministerpräsident wegen der ähnlich gelagerten Situation seiner Landesbank zurückgetreten. In Bayern hat der Finanzminister seinen Hut genommen – und der Ministerpräsident hat sich bei den Steuerzahlern entschuldigt. In Hamburg dagegen gab es nicht einmal die Andeutung eines echten Bedauerns.

Finanzsenator Freytag verweist auf seinen späten Eintritt in den Aufsichtsrat, dem er erst seit 2007 angehört. Bürgermeister Ole von Beust kommentiert lächelnd, er habe ja nicht im Aufsichtsrat gesessen. Und Ex-Finanzsenator Wolfgang Peiner (CDU), der Spiritus Rector der Hamburger Privatisierungspolitik, Gründervater der HSH Nordbank und Noch-Aufsichtsratschef, betont, dass die Entwicklung ja niemand vorausgesehen habe.

Forderungen nach persönlicher Haftung werden lauter

„In der Menge diffundiert die Verantwortung“, sagt der Verwaltungswissenschaftler und Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim. „Wenn viele dieselben Fehler machen, übernimmt am Ende keiner die Verantwortung.“ Überhaupt sei es bei Politikern aus der Mode gekommen, „politische Verantwortung zu übernehmen“ und für Fehler der Regierung geradezustehen. Das habe mit einem Wertewandel zu tun, „in dessen Folge mehr an das eigene Wohl als an das Gemeinwohl gedacht wird“, so von Arnim. Außerdem gebe es immer mehr Berufspolitiker, die ökonomisch von der Politik abhängig seien. Von Arnim plädiert dafür, an Politiker denselben Maßstab anzulegen wie an Beamte: „Beamte haften und können bei schuldhaftem Verhalten auch persönlich in Regress genommen werden. Das sollte künftig auch bei Ministern möglich sein.“

In Sachsen versucht der Landesrechnungshof derzeit, die Aufsichtsräte der früheren Landesbank in Regress zu nehmen. Auch wenn die dann zu belangenden Minister aus ihrem Privatvermögen kaum den angerichteten Schaden ersetzen könnten: Sollte der Rechnungshof sich in diesem Bestreben durchsetzen, dürfte das doch gravierende Konsequenzen haben. Künftig dürfte kein Aufsichtsrat mehr Vorstandsentscheidungen abnicken, die er nicht wenigstens halbwegs verstanden hat.

In Hamburg allerdings funktioniert auch dies nicht. Der Rechnungshof der Hansestadt hat aufgrund von Konstruktion und Satzung der HSH Nordbank bisher nicht einmal Einblick in deren Unterlagen nehmen können.

Aber nicht nur am Thema Nordbank zeigt sich, wie schwer es ist, Politiker für ihre Fehler zur Verantwortung zu ziehen.

Liste des Versagens: HEW, Elbphilharmonie, HSH, Lara

Beispiel Hamburgische Electricitätswerke (HEW): An deren Verkauf an den schwedischen Vattenfall-Konzern waren SPD, GAL, Schill-Partei, CDU und FDP beteiligt. Die Rechnung für den strukturpolitischen Unsinn, ein staatliches durch ein nicht mehr aus Hamburg steuerbares Fremdmonopol zu ersetzen, haben nicht nur die Hamburger Privathaushalte mit höheren Stromtarifen bezahlt. Auch die energieintensive Industrie ächzt bis heute unter der Entscheidung.

„Der Verkauf war ein Fehler“, konstatieren jetzt alle Beteiligten, von den Bürgermeistern bis zu den Parlamentariern, die ihre Stimme für den Verkauf abgaben. Nach diesem Eingeständnis zucken sie sogleich mit den Achseln – und werkeln munter weiter.

Beispiel Jessica: Das siebenjährige Mädchen, das 2005 mitten in Hamburg in einem von den eigenen Eltern errichteten Verließ verhungerte, war nie in der Schule erschienen. Die Behörden verhängten ein Bußgeld, das nie bezahlt wurde – und hakten nie wieder nach. Hätten sie sorgfältig gearbeitet, hätte das Mädchen womöglich gefunden und gerettet werden können. Die Verantwortung für diesen tödlichen Fehler übernahm – niemand.

Beispiel Elbphilharmonie: Die Kosten sind von 114 auf 323 Millionen Euro gestiegen. Es zahlt: der Bürger. Wer hat die Verantwortung übernommen? Ein Senator, ein Staatsrat? Keinesfalls. Der Bürgermeister, der die Elbphilharmonie zu Hamburgs Wahrzeichen machen will, feuerte den Geschäftsführer einer städtischen Gesellschaft und bürdet die 209 Millionen Euro Mehrkosten freundlich lächelnd den Hamburger Steuerzahlern auf.

Beispiel Immobilienverkauf: Der damalige Finanzsenator Peiner verkaufte zahlreiche Hamburger Edelimmobilien, darunter das Gebäude der Finanzbehörde am Gänsemarkt, an einen französischen Fonds, und ließ sie zurückmieten. Das sei ein gutes Geschäft, behauptete er. Mittlerweile haben die neuen Inhaber die Mieten drastisch angezogen, und der ?Stadt entstehen unerwartet hohe Kosten. Reaktion aus dem Beust-Senat: Achselzucken.

Politologin will „Debatte über Verantwortung“

Beispiel Baby Lara: Senat und Bezirk schieben die Verantwortung für den Tod des staatlich betreuten Kindes hin und her – am liebsten würden sie sie den Sozialarbeitern aufbürden. Dabei hat die Politik denen durch immer neue Anforderungen die Arbeit erschwert.

„Politiker stehen nicht mehr zu ihrer Verantwortung“, konstatiert die Hamburger Politikwissenschaftlerin Christine Landfried. Es sei Zeit, über diesen Wandel der politischen Sitten endlich „eine Debatte anzuzetteln“. Auch die Medien müssten das Bewusstsein für die Verantwortung der Politik, aber auch jedes Einzelnen in seinem Bereich schärfen.

Landfrieds Hamburger Kollege Michael Th. Greven sieht vor allem ein strukturelles Problem. „Verantwortung ist weitgehend in institutionelle Prozesse verlagert worden“, so Greven. So seien Politiker zumeist von den Folgen ihres Handelns entlastet – ganz gleich wie groß der angerichtete Schaden sei. Oft seien sie auch längst nicht mehr im Amt, wenn die Folgen ihrer Entscheidungen aufträten. Als ein Beispiel nennt Greven die Verschuldungspolitik, deren Folgen immer erst die kommenden Generationen ausbaden müssten.

Anders als es Finanzsenator Freytag dargestellt hat: Verantwortung hat sicher nichts mit dem „Erschießen von Feuerwehrleuten“ zu tun. Auch verlangt hier und heute kein Wähler einen Harakiri von Menschen, die Fehler gemacht haben, ganz zu schweigen von „Massakern“. Allein, es wäre schön, wenn Politiker sich an den einfachen Grundsatz hielten, den die meisten von uns auch ihren Kindern beibringen: Stehe ein für das, was du getan hast.

Erschienen am 28. Juni in 2009 „Welt am Sonntag“ und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

2 Kommentare

  1. Interessanter Blog! Das Verschwinden der Verantwortung ist leider wirklich absolut signifikant für unsere Zeit, betrifft aber nicht nur Politik und Wirtschaft, es ist in der gesamten Gesellschaft zu beobachten. Der Fall „Jessica“ zeigt doch, dass nicht nur die zuständigen Behörden, sondern zunächst einmal die Eltern versagt haben, indem sie ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind. Ein Phänomen, dass sich übrigens nicht auf die sog. „Unterschicht“ beschränkt; auch die Angehörigen der selbst ernannten „Eliten“ entledigen sich oft genug und auf elegantere Weise der lästigen Verantwortung für die Erziehung ihrer Sprösslinge. Nicht indem sie diese verhungern lassen, sondern im Gegenteil mit unfassbaren Mengen seelenloser Konsumgüter überfüttern, die moralisch-emotionale Entwicklung dabei aber geflissentlich vernachlässigen. So oder so: Echte Werte werden doch heute in unserer Gesellschaft weder von den Spitzen derselben noch von der – sagen wir mal – „Basis“ gepflegt und vermittelt. Frei nach dem aus der Hermetik bekannten Gesetz „Wie oben, so unten“. Und die Mitte bröckelt ohnehin mit zunehmender Geschwindigkeit weg. Das Verhängnis nimmt so ungehindert seinen Lauf …

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