Dunkelesser

Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber es wird jetzt früher dunkel. Bei uns gibt es einen Kollegen, der behauptet sogar, es werde früher dunkel als früher. Also nicht früher als vor Ende der Sommerzeit, sondern früher als in vergangenen Jahrzehnten. Er meint tatsächlich eine schleichende Verdunklung der Welt auszumachen, was andere, zutiefst bösartige Kollegen mit dem Hinweis konterten, es könne sich auch um eine subjektive Verdunklung durch persönliche Umnachtung handeln.

Viel mehr zu denken gab mir allerdings ein Gespräch zweier Kolleginnen, das ich kürzlich in der Kopierküche der Hamburger WELT-Redaktion (dort stehen neben Kopierern und Faxgeräten auch Kaffeemaschinen und so Zeugs) belauschte. Wohlgemerkt: unwillentlich belauschte – denn tatsächlich hätte ich mir die Besorgnis gerne erspart, die das Gespräch in mir hinterließ.

Sehr beeindruckt berichtete die eine Kollegin der anderen von einer neuen, wissenschaftlich überprüften Erkenntnis, dass sich mehrere Zehntausend Menschen seit einigen Jahrzehnten von Licht ernährten. Sie tränken nichts und äßen nichts und lebten ausschließlich von Lichtstrahlen. Es läuft wohl gerade ein Kinofilm, der von Licht essenden Yogis und Swamis handelt, und wie man hört, sehen viele der begeisterten Zuschauer so aus, als nähmen auch sie jeden Tag nichts als zwei Gläschen Osram-Saft zu sich.

Nun leben wir in einem freien Land, und jeder kann essen, was er will. Allerdings wirft die Lichtesserei doch einige Fragen auf. Nicht nur die, ob Glühbirnen künftig in Supermärkten zwischen Leberwurst und Edamer gehören oder Lichtesser von Solarienbesuchen fett werden. Vor allem geht es um gut und böse. Denn es kommt ja schon lange nicht mehr zuerst das Fressen und erst später die Moral, sondern es dreht sich alles bloß noch ums moralische Fressen. Wer Steak isst, muss sich heute vorwerfen lassen, er trage wegen der Polareisvernichtung durch furzende Kühe die persönliche Schuld am Ertrinken der Eisbären.

Sorry, aber ich werde trotzdem weiter Nahrung zu mir nehmen. Ich weigere mich, auf Licht umzustellen, denn in Wahrheit richten die Lux verzehrenden Swamis doch die viel nachhaltigere Katastrophe an: Diese Inder und ihre westlichen Jünger sind schuld daran, dass es immer dunkler und dunkler wird auf der Welt. Sie fressen uns das Sonnenlicht weg.

Erschienen am 6. November 2010 in der Rubrik „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

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