Hamburg hat sein Wahlrecht abgewählt

Es stimmt: Das neue Hamburger Wahlrecht ist kompliziert – mindestens so kompliziert wie das Ausfüllen eines gültigen Lottoscheins. Für einige Wähler war es offenbar zu kompliziert. Der Anteil der ungültigen Listenstimmen hat sich bei dieser Wahl im Vergleich zu 2008 mehr als verdreifacht. Zugleich ist die Wahlbeteiligung erstmals unter 60 Prozent gefallen. Auch das könnte, neben der Tatsache, dass 70.000 CDU-Wähler aus Unzufriedenheit mit ihrer Partei die Wahl verweigerten, am System liegen.

Weitaus schwerer als seine Komplexität wiegt ein anderes Argument gegen das neue Wahlrecht: Es ist nicht für Großstädte geeignet. Denn anders als in einer mittleren Kommune ist es in einer Metropole für die Wähler unmöglich, auch nur einen kleineren Teil der Kandidaten zu kennen oder ihre politischen Leistungen einzuschätzen. Viele Wähler haben daher nach Wohnort oder Beruf oder Herkunft des Bewerbers gewählt – nicht gerade zentrale Kriterien für die Frage, ob jemand ein guter Politiker ist.

In der Folge haben einige besonders engagierte Abgeordnete wie SPD-Mann Thomas Böwer oder der CDU-Gesundheitspolitiker Harald Krüger den Einzug in die Bürgerschaft nicht wieder geschafft. An Böwer, hinter dessen Namen auf dem Stimmzettel „Freiberufler, Eidelstedt“ stand, zog eine Redakteurin aus Niendorf vorbei – vermutlich, weil die Niendorfer automatisch eine Niendorferin wählten. Krüger wurde von einem jungen Russlanddeutschen übertrumpft, der gezielt bei russlanddeutschen und deutschrussischen Wählern warb und dessen Homepage beim Aufruf durchgehend auf Russisch erscheint.

Es scheint sich derweil zu bestätigen, dass alle Kandidaten mit Listenplatz 31 besonders viele Stimmen bekommen haben und deswegen in die Bürgerschaft einziehen können. Einziger Grund: Die Bewerber für Platz 31 standen im Stimmzettelheft auf einer rechten Seite oben. Auch die Tatsache, dass Promovierte bevorzugt gewählt wurden, zeigt, dass sachfremde Erwägungen und Zufälle in dem neuen System eine hohe Bedeutung erlangen – weil kaum jemand die Kandidaten kennt.

Für die Parteien ist das neue Recht ebenfalls schwierig. Es ist ihnen kaum möglich, erfahrene Fachleute so zu platzieren, dass sie sicher in die Bürgerschaft einziehen. Für die Qualität der Parlamentsarbeit ist das nicht eben förderlich.

Natürlich gibt es auch Argumente für das Wahlrecht – denn wenn er wollte, und wenn er sich tagelang mit den Kandidaten beschäftigen könnte, hätte der Wähler in der Tat mehr Macht. Und natürlich ist es zu früh für abschließende Urteile. Aber bereits jetzt kann man sagen: Die Behauptung, das neue Wahlrecht sei demokratischer als das alte, wird von den Ergebnissen der Bürgerschaftswahl nicht gestützt. Im Gegenteil.

Die Parteien sollten sich Gedanken über eine Reform machen.

Erschienen am 23. Februar 2011 in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel “Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind” auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.
 

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