Eine Knarre für die Eins

Das erste Noten-Zeugnis meines Sohnes hat mir keine Sorgen bereitet. Was danach kam, schon.

Ich weiß, man soll seine Kinder nicht anlügen, aber man muss ihnen auch nicht alles erzählen. Außerdem ist es schon ein paar Sommer her, dass ich die dritte Klasse besucht habe, da muss ich mich wohl nicht an alle Noten erinnern – auch wenn mein Sohn Max das jetzt gern gehabt hätte. Er hat ein erschütternd gutes Zeugnis bekommen, sein erstes mit Noten. Prompt will er sich mit mir messen und fragt, ob ich auch soundso viel Einsen hatte, dabei liegt mir Angeberei nur ausnahmsweise.

„Klar“, sage ich betont cool. „Mindestens so viele. Eher mehr.“
„Zeig mal dein Zeugnis aus der dritten Klasse.“
„Hab ich weggeschmissen.“
„Papa, seit wann schmeißt man denn Zeugnisse weg?“
„Ich hatte so viele Eins-A-Zeugnisse im Leben, die passten einfach nicht mehr in die Umzugskisten.“
„Schon klar, Papa.“

Als wenn es nicht reichen würde, dass ich beim Fußball hin und wieder noch gewinne. Oder beim Pokern um sein Taschengeld. Muss ich meine Autorität jetzt aus meinen Grundschulnoten beziehen? Metaphysisch betrachtet sind Noten doch völlig unwichtig. Es kommt auf andere Werte an: Güte und Friedfertigkeit, meinetwegen. Doch nicht auf Noten!

Zur Belohnung für sein Zeugnis hat meine Frau dem Nachwuchs-Einstein eine Waffe gekauft, weiß Gott, warum. Eine Nerf, um genau zu sein. Das ist eine bei heranwachsenden Halbstarken hoch angesagte Plastikknarre. Das Teil verschießt Pfeile mit Gummipfropfen, die an Wänden backen, aber nicht nur. Sie haften, wie wir gerade im Lebendversuch nachweisen konnten, auch an haarlosen Hinterköpfen. An meinem jedenfalls.

Ich bin ja im Grunde schon immer gegen Waffen gewesen, aber Pazifisten werden heutzutage nirgends mehr ernst genommen, nicht einmal in ihren eigenen vier Wänden.

„Man schießt nicht auf Menschen, auch nicht mit Nerfs!“
„War ‘n Versehen, Papa.“
„Und schon gar nicht von hinten. Das tun nur Feiglinge.“
„Und von vorne ist okay?“
„Möglicherweise bei Frauen. Mama ist übrigens im Garten.“

Im Grunde müsste man bei uns jetzt Schutzbrillen tragen. Den Beweis, dass Nerf-Pfeile auch auf der Hornhaut des Auges haften, kann gerne jemand anders erbringen.

Für den Fall, dass unser Sohn Paul das Seepferdchen schafft, hat meine Frau ihm auch eine Nerf versprochen. Das wäre gerecht, sagt sie.

Ich habe mich bei all dem gefragt, ob ich nicht auch mal wieder ein Zeugnis bekommen könnte, oder wenigstens eine anständige Belohnung. Fürs akkurate Mülltrennen vielleicht oder für meine Leistungen bei der Kindererziehung. Ich weiß auch schon, was ich nehme: eine Großpackung Boden-Luft-Raketen.

Erschienen am 2. Juli 2011 in WELT und WELT ONLINE in der Rubrik „Hamburger Momente“. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel “Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind” auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.

 

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