In Hamburg ist der deutsche Islamist Pierre Vogel am Dammtor-Bahnhof aufgetreten. Während er eine Rückkehr ins Mittelalter propagierte, haben ihm 1000 Muslime zugejubelt und im Regen ihren Gott angebetet. Müssen wir jetzt Angst haben? Ein Kommentar.
Mitten in Hamburg, direkt am Dammtor-Bahnhof, werfen sich 1000 Muslime in strömendem Regen zu Boden und preisen Allah. Auf der Bühne steht ein dicklicher Mann mit rotem Bart und behauptet auf Rheinländisch, Frauen würden im Islam nicht gezwungen, sich zu verschleiern. Dazu macht er Witze über Damenbärte. Der Salafist und frühere Boxer Pierre Vogel hat in Hamburg eine bedingt komische Predigt über den Islam gehalten, so wie er ihn versteht – als ein Zurück ins Mittelalter. Zum ersten Mal haben dabei Muslime mitten in der Stadt unter freiem Himmel gebetet. Zugegeben, ein ungewohntes Bild. Und doch: Mir jagt all das keine Angst ein. Warum auch?
Der deutsche Konvertit Vogel ist ein schräger Typ, ein bunter Hund, der deutsche Komiker des Islamismus. Er spricht mit seiner betont lockeren Art vor allem junge deutsche Muslime mit Migrationshintergrund an. Was er aber zumindest öffentlich nicht tut: Er ruft nicht zu Hass und Gewalt auf. Man kann das für eine Finte halten. Verfassungsschützer warnen davor, dass Vogel als Durchlauferhitzer zur Radikalisierung dienen könnte. Und natürlich muss man womöglich ein Auge auf ihn und einige seiner Zuhörer haben. Und doch gilt: Dies ist ein freies Land, und wer ein mittelalterliches Leben preisen will, der darf das tun. Jeder darf seinen Gott anbeten, auch am Dammtor im Regen. Jeder darf seinen eigenen, bisweilen auch eigenartigen religiösen und esoterischen Vorstellungen folgen, egal ob er „Hare Krishna“ singen, sein Haus nach Feng-Shui einrichten oder sich für einen verstörten Thetan halten will, wie es die Scientologen tun. Na und?
Wir haben allen Grund, gelassener damit umzugehen, als wir es gelegentlich tun. Glaubt wirklich jemand, eine Handvoll verschrobener Scientologen gefährde unsere Gesellschaftsordnung? Oder es fänden sich massenhaft Menschen, die mittelalterlich leben wollen? Wohl kaum. Selbst viele der jungen, geschminkten Frauen, die Vogel zuhörten, wollen sich gar nicht verschleiern. Für sie war der Auftritt des rheinischen Rotbarts einfach eine lustige Show. Im Übrigen kamen weit weniger Menschen als vom Prediger erhofft.
Natürlich: Damit aus Show nicht irgendwann blutiger Ernst wird, muss die Gesellschaft wachsam bleiben – und dabei doch gelassen. Wir sollten zugleich dafür sorgen, dass alle jungen Menschen eine Ausbildung bekommen, wie es der Senat als hehres und richtiges Ziel ausgegeben hat. Gegen Radikalisierung helfen vor allem Bildung und die Chance, in unserer freien Gesellschaft ein gutes Leben zu führen. Daran ändern auch schräge Vögel nichts.
Erschienen am 11. Juli 2011 in WELT und WELT ONLINE. Die sehr lesenswerte Reportage des WELT-Kollegen Per Hinrichs zu dem Vogel-Auftritt findet sich hier. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel “Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind” auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.