Busfahren kann sehr unheimlich sein, jedenfalls für Kinder. Als ich kürzlich mit meinem Achtjährigen mit dem 5er in die Innenstadt fahren wollte, zog sich mein Sohn eine Ein-Euro-Kinderkarte aus dem Automaten, setzte sich neben mich in die letzte Reihe und starrte schließlich sichtlich irritiert auf das Busticket. Dann drehte er sich mit für einen Achtjährigen extrem zerfurchter Stirn zu mir und fragte: „Papa, woher wissen die eigentlich, dass ich in der zweiten Klasse bin?“
Man soll seine Kinder nicht auslachen, wollte ich auch nicht, ehrlich, aber trotzdem konnte ich nicht an mich halten. Ich erklärte ihm, dass auf seiner Karte nicht „2. Klasse“ stand, weil er gerade im zweiten Schuljahr ist, sondern weil es auch Schnellbusse und früher einmal auch in Hamburg Erste-Klasse-Abteile gab, die ziemlich schick waren und für die man teurere Karten kaufen musste. Die Vorstellung, der Hamburger Verkehrsverbund HVV kenne seine Kunden durch und durch (womöglich mit Hilfe von Google, Apple und all diesen Überwachungskameras), beschäftigte uns dann noch eine Weile, während der 5er durch die Löcher in der Hoheluftchaussee rumpelte.
„Schulklasse, Haarfarbe, Beruf, vielleicht sogar welche Laune wir gerade haben, die wissen alles über uns“, sagte ich. „Deswegen hast Du Glück, dass auf Deiner Karte nur 2. Klasse stand, beim nächsten Mal steht vielleicht Turnbeutelvergesser drauf.“ „Bei Dir kann keine Haarfarbe stehen, dafür aber Schlüsselbundverlierer oder Zuspätkommer“, entgegnete mein Sohn. „Ich habe eine Monatskarte“, konterte ich leicht indigniert.
In Wahrheit zeigt diese Geschichte natürlich auch etwas anderes, nämlich, dass wir alles, was um uns herum geschieht, auf uns selbst beziehen – im guten wie im schlechten Sinne. Wie der Junge, der einst wütend mit dem Fuß aufstampfte und später glaubte, er habe das just in diesem Moment einsetzende Erdbeben verursacht. Auch ich neige dazu, alles Mögliche als Nachricht oder Appell an mich selbst zu lesen. Als wir am Gänsemarkt ausstiegen, reckte mir mein Sohn seine Karte hin. Darauf hatte er mit einem Filzstift „2. Klasse“ durchgestrichen und darunter „Eisesser“ gekritzelt.
Okay, ich bin ja nicht so. Selbst in einem Mai, der sich für einen Spätnovember hält, schmecken Stracciatella und Nuss – notfalls mit Handschuhen. Und in der Gerhofstraße gibt es gleich mehrere Eisdielen der Kategorie „1. Klasse“.
Erschienen am 15. Mai 2010 in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.