Seit ich Kinder habe, gibt es kein Thema, das mir stärker auf die Nerven geht als die Gerechtigkeit. Das liegt vielleicht daran, dass der erste grammatikalisch perfekte Satz meines jüngeren Sohnes „Papa, das ist unge-echt“ lautete. Natürlich wusste er nicht, was er sagte, aber er sagte es im Ton höchster Empörung, den er sich bei seinem großen Bruder abgelauscht hatte. Keine Ahnung, ob es darum ging, dass er einen Keks mehr wollte oder ein Stück Schokolade. Von Gerechtigkeit reden meist diejenigen, die mehr haben wollen, nicht die, die ihren Brüdern dringend etwas abzugeben wünschen.
Wenn man zwei Söhne hat, geht es (außer um Darth Vader) ausschließlich um Gerechtigkeit. Paul hat eine Minute länger vorne gesessen. Max hatte mehr Streusel auf dem Kuchen. Wieso durfte Paul fünf Bücher aus der Bücherhalle ausleihen und ich nur vier? Warum ist Max auf drei Geburtstagen eingeladen, ich nur auf zwei?
Ohne die Gnade ihrer späten Geburt hätte ich meinen Jungs längst nahegelegt: „Geht doch nach drüben, da ist es vollkommen ge-echt, da haben alle nichts und wohnen hinter derselben grauen Mauer.“ Manchmal bin ich kurz davor, eine Westerwelle-Leistung-muss-sich-lohnen-Rede zu halten. Stattdessen versuche ich mich in Langmut und unendlicher Erklärungslust. Dann sage ich, dass nicht alle dasselbe zum Glück brauchen, dass der eine mehr von dem einen, der andere mehr von anderem bekommt; dass viele Kinder in Afrika überhaupt keine Spielsachen haben; dass man nichts daran ändern kann, dass manche stark und hübsch und andere kränklich und blass sind; dass es darauf ankommt zu teilen; dass es auf Erden vielleicht Recht, aber totale Gerechtigkeit womöglich nur im Himmel gibt.
Meine Söhne erbieten sich dann sofort, ein paar Playmobil-Figuren nach Afrika zu schicken, der Rest meiner Rede lässt sie kalt. Und kurz darauf beginnen sie wieder Duplos und die Minuten zu zählen, die jeder am Computer spielen darf. Denn Gerechtigkeit ist in ihren Augen natürlich messbar. Sie ist konkret, konkret wie ein Becher Pudding oder eine Kugel Eis. In Wahrheit, das glauben meine Söhne, wäre die globale Gerechtigkeit ganz einfach herzustellen. Alle Menschen essen einfach jeden Tag exakt dieselbe Menge Schokoeis, jeder so zehn bis zwölf Kugeln. Falls in Barmbek, Buenos Aires oder Burundi einer eine weniger hat, geben wir ihm eine ab, Papa. Das ist gerecht.
Wenn das so ist, kämpfe ich jetzt auch für die Ge-echtigkeit. Aber ich nehme, falls das möglich ist, lieber Stracciatella.
Erschienen am 21. August 2010 in der Rubrik „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.