Kurz vor der Bürgerschaftswahl ist in Hamburg erneut eine Diskussion darüber entbrannt, ob das vor einigen Jahren eingeführte Zehn-Stimmen-Wahlrecht nicht zu kompliziert ist. Ich meine: Nein. Es gibt aber eine wesentliche Schwäche des aktuellen Abstimmungsverfahrens. Mein Leitartikel aus dem „Hamburger Abendblatt“.
Je unübersichtlicher die Welt, umso wichtiger wird das, was Fachleute neudeutsch „Usability“ nennen, also: Bedienkomfort. Die meisten von uns möchten die praktischen Möglichkeiten nutzen, die uns neue Technik bietet. Wir wollen dafür aber nicht 100 Seiten lesen oder ein Ingenieurstudium absolvieren.
Genau das ist das Erfolgsgeheimnis etwa der modernen Handys: Man kann mit ihnen telefonieren, Mails schreiben, Filme machen, spielen, Geld überweisen oder Fotos verschicken. Und doch sind sie einfach, fast schon intuitiv zu bedienen. Das ist die Herausforderung für die Hersteller: Sie müssen den Kunden einerseits viele Möglichkeiten geben, dürfen sie aber bei der Nutzung nicht überfordern – denn sonst werden sie ihr Produkt nicht annehmen.
Nun kann man zwar mit Handys seine Stimmen bei einer Wahl (noch) nicht abgeben. Und doch ist die Herausforderung für Macher von technischen Geräten und Wahlverfahren in diesem Punkt ähnlich: Auch ein modernes Wahlrecht hat das Ziel, den Bürgern neue Möglichkeiten zu geben. Dabei darf das Abstimmungsverfahren aber nicht so kompliziert werden, dass die Wähler sich entnervt abwenden.
Ob diese Gratwanderung beim Hamburger Wahlrecht geglückt ist, darüber wird nun wieder einmal diskutiert. Das (gar nicht mehr so) neue Verfahren gibt den Hamburger bekanntlich deutlich mehr Macht und Möglichkeiten bei der Auswahl ihrer Bürgerschaftsabgeordneten. Statt wie früher nur eine einzige Stimme für eine Partei abgeben zu können, haben sie jetzt zehn Stimmen.
Dabei müssen die Wähler auch nicht mehr alles übernehmen, was die Parteien ihnen vorsetzen – stattdessen können sie zum Beispiel einen Kandidaten, den die Partei auf einen aussichtslosen Platz gesetzt hat, ganz nach vorne und damit doch noch ins Parlament wählen.
Die drei wesentlichen Nachteile an der Sache: Erstens muss der wahlberechtigte Hamburger nun statt eines einfachen Wahlzettels ein ganzes Abstimmungsheft bedienen, das fast so schwer wie eine Zeitschrift in der Hand liegt. Zweitens werden ihm Hunderte von Namen präsentiert, von denen er die meisten noch nie in seinem Leben gehört hat und auch niemals hören wollte. Und drittens ist das Wählen mit der neuen Methode teurer, und das Auszählen dauert länger.
Den ersten und letzten Kritikpunkt kann man wohl relativ leicht entkräften. Denn, einmal geübt und verstanden, ist das Wählen in Hamburg gar nicht so kompliziert. Bis zehn zählen kann wohl jeder Wahlberechtigte – das zeigt sich auch daran, dass die Zahl der ungültigen Stimmen zuletzt zurückging.
Und dass mehr Demokratie im Zweifel etwas mehr Geld kostet, ist (zumal bei den in Rede stehenden Summen) verkraftbar. Problematisch allerdings bleibt der zweite Punkt: Was soll der Wähler mit einer endlosen Namensliste anfangen, wenn er fast niemanden darauf kennt?
Selbst bei den Initiatoren der Wahlrechtsreform von Mehr Demokratie sieht man dieses Problem – hält aber die Parteien für verantwortlich. Diese verhinderten, dass sich Kandidaten aus den hinteren Reihen bekannt machten, heißt es aus dem Verein. Dabei hat der Versuch der Parteien, eine gewisse Kontrolle darüber zu behalten, wer für sie in die Bürgerschaft einzieht, nachvollziehbare Gründe.
Denn natürlich braucht jede Fraktion auch Experten für die unterschiedlichen Fachgebiete. Wenn sie nicht mehr absichern kann, dass ihre Fachleute bei der Wahl auch durchkommen, kann das die Arbeit des Parlaments erschweren.
So oder so: Vor der nötigen Debatte über das Wahlrecht sollten wir alle die Bürgerschaftswahl abwarten. Vielleicht machen am 15. Februar ja mehr Hamburger von ihren neuen Möglichkeiten Gebrauch als befürchtet. Das ist nämlich gar nicht so kompliziert, wie es scheint – in Wahrheit einfacher als die Bedienung eines Telefons.
Erschienen am 3. Januar 2015 als Leitartikel im „Hamburger Abendblatt“ und als Kommentar in der der WELT Hamburg.