Dieses tückische Virus soll ja sogar ein paar positive Wirkungen haben. Mehr Rücksicht, viel Solidarität und mehr Sport an frischerer Luft zum Beispiel. Auch die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen hat der kontaktfreudige Keim aus Fernost zu einer sportlichen Veranstaltung gemacht. Weil die Koalitionäre jetzt nicht mehr in Tuschelnähe sitzen dürfen, sind die Absprachen auch innerhalb der Delegationen mühselig. Um den gebührenden Abstand zu wahren, tagt man im Großen Festsaal des Rathauses an einem Tisch, länger als ein XXL-Bus der Hamburger Hochbahn.
Wenn es also etwas mit Parteifreunden zu besprechen gibt, schickt man sich entweder Nachrichten (etwa über den sicheren Handy-Messenger Threema) – oder rennt, beladen mit stapelweise Papier, von einem Ende der Tafel zum anderen und im Zweifel einmal um den Saal herum. Wer von den zwei Dutzend Verhandlern einen Schrittzähler im Handy installiert hat, dürfte an einem durchschnittlichen Verhandlungstag damit locker sein Wochenpensum absolvieren.
Am vergangenen Mittwoch wurde besonders viel gelaufen. Denn zum ersten Mal gerieten die bisher weitgehend geräuschlos unter dem Corona-Radar geführten Verhandlungen ins Stocken. Immer wieder nahmen sich die Verhandler Auszeiten, die Delegationen tagten ein ums andere Mal entnervt separat, und mancher unkte schon, man stehe kurz vor dem Abbruch. Am späten Abend vertagte man sich ohne Ergebnis, das geplante Pressestatement hatte man da längst schon abgesagt. Nach zehn Stunden gingen Rote und Grüne ergebnislos und grantig noch weiter auseinander, als sie eh die ganze Zeit gesessen hatten.
Streitpunkte A26 Ost, Hafenerweiterung und Radverkehr
Das kam einerseits überraschend; denn bei den sechs vorangegangenen Runden waren sich Genossen und Grüne immer einig geworden und hatten Ergebnisse präsentiert. In diesen Krisenmonaten sei man zum schnellen Kompromiss verdammt, hieß es da noch: „Es würde niemand verstehen, wenn wir uns mitten in einer Pandemie wie Gladiatoren mit blutigen Schwertern um jede Kleinigkeit schlagen würden.“
Andererseits war der Krach vom Mittwoch programmiert. Denn an diesem Tag standen die Themen auf der Tagesordnung, in denen SPD und Grüne am weitesten auseinanderliegen: Wirtschaft und Verkehr. Wie zu Beginn der Verhandlungen vereinbart, schickten sich beide Seiten bis 20 Uhr am Vorabend ihre Positionspapiere. Und wie üblich trug eine der Seiten ihre Version am Verhandlungstag mit bereits von der Gegenseite ergänzten Punkten vor – diesmal waren es die Grünen.
Aber so eingeübt das Verfahren mittlerweile ist, diesmal krachte es trotzdem. Wie erwartet stritt man über den für die SPD unverzichtbaren und die Grünen zweifelhaften Bau der Autobahn 26 Ost, der Hafenpassage, die A 1 und A 7 verbinden soll – und über die Hafenerweiterungsgebiete, etwa den Vollhöfner Wald. Etwas überraschender kam es, dass sich die Unterhändler dann vor allem beim Thema Radverkehr verhakten – obwohl auch ein SPD-Verhandler betonte, Hamburg brauche „auf jeden Fall mehr Rad- und weniger Autoverkehr“. Die Grünen allerdings wollen künftig satte 100 Kilometer pro Jahr an neuen Radwegen bauen. Der SPD ist das zu viel – das sei einerseits angesichts der Krise zu teuer und andererseits habe man ja in der vergangenen Wahlperiode nicht in einem einzigen Jahr auch nur die bisher veranschlagten 50 Kilometer geschafft.
Peter Tschentscher will sein Wahlversprechen durchsetzen
Grüner Konter: Tja, das habe dann wohl daran gelegen, dass man das in der von der SPD verantworteten Wirtschaft- und Verkehrsbehörde nicht motiviert genug umgesetzt habe. Bei den Straßensanierungen habe man die Vorgaben komischerweise sogar übererfüllt. Im Übrigen müsse man sich ehrgeizige Ziele setzen – das habe die SPD ja beim Wohnungsbau erfolgreich vorgemacht. Bis zum späten Abend näherte man sich zwar an. Nun sieht es so aus, als ob man sich auf einen Stufenplan mit jährlicher Steigerung der Ausbauziele einigen und die Bezirke bei der Umsetzung unterstützen könnte. Vom sprichwörtlichen Eis ist diese Kuh aber nicht. Und dort tummeln sich auch noch andere widerborstige Rinder.
SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher, der sich laut Teilnehmern bei den meisten Treffen bisher noch neben SPD-Verhandlungsführerin und Parteichefin Melanie Leonhard ungewöhnlich zurückhaltend gibt, wollte nun am Mittwoch zum Beispiel sein Wahlversprechen durchsetzen, HVV-Karten für Schüler im Laufe der Wahlperiode kostenlos anzubieten. Die Grünen halten das für nicht bezahlbar – und setzen auf ein Modell, das Familien entlasten soll. Klar ist dagegen wohl, dass sie dem Bau der A 26 am Ende zustimmen. Es geht allerdings darum, welcher Ausgleich für die betroffenen Anwohner vorgesehen wird. Einig ist man sich, dass die bisher sehr stark befahrene Bundesstraße 73 im Süden der Stadt im Gegenzug an vielen Stellen teilweise zurückgebaut werden soll.
Der Streit über den Flughafen bleibt ungelöst
Ungelöst ist dagegen der Streit um den Flughafen, an dessen Ausbau die SPD wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung festhalten will – während die Grünen auch im Sinne des Lärmschutzes für weitere Einschränkungen plädieren und eine Wachstumsdebatte angesichts der derzeit fast flugfreien Monate für deplatziert halten. Zwar wurde das Thema noch gar nicht offiziell verhandelt, aber die bereits von der SPD ventilierte Idee, den Fluglärmschutz von der Umwelt- in die Wirtschaftsbehörde zu verlagern, sorgte bereits für verstärkte Adrenalinausstöße in grüne Gefäßsysteme.
Noch keine Einigung gibt es auch über das von den Grünen vorgeschlagene Konzept einer „autoarmen Innenstadt“, das nun in den Bereich Stadtentwicklung verschoben werden soll – schließlich gibt es im Verkehrsressort genug Ärger. Für Konflikte könnte auch der Klimaschutz sorgen. Die SPD will Hamburg bis 2050 zur klimaneutralen Stadt machen, die Grünen schon 2035.
Das Wahlergebnis macht bei alldem die Gespräche nicht einfacher – denn beide Parteien fühlen sich als Sieger. „Für SPD und Bürgermeister ist es offenbar schwer zu akzeptieren, dass unser verdoppeltes Wahlergebnis sich im Koalitionsvertrag niederschlagen muss“, sagt jemand aus der Grünen-Truppe. Und von der SPD heißt es in Richtung Grüne: „Ihr habt die Machtfrage gestellt, wolltet stärkste Kraft werden und seid gescheitert – akzeptiert das endlich!“
Erfolgsrezept: auf ideologische Reizworte verzichten
Beide Parteien sähen sich als Wahlsieger, konstatiert auch Grünen-Chefverhandlerin Katharina Fegebank – „und entsprechend hart wird auch gerungen“. Am besten komme man voran, wenn man „frei von moralischer Überhöhung oder jeglicher Ideologie für die konkreten Fragen nach konkreten Lösungen“ suche. „Das gelingt uns ganz gut, auch wenn es zuletzt vor allem beim Thema Verkehr öfter mal gehakt hat. Das gehört dazu, wenn zwei Parteien verhandeln. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir eine Mobilitätswende brauchen und dafür streiten wir hart in der Sache.“
Erfahrene Verhandler wie Fegebank oder die dazu geholte Grünen-Bundestagsabgeordnete und Finanzexpertin Anja Hajduk haben längst verinnerlicht, dass man am besten auf ideologische Reizworte verzichtet. So bekommen die Genossen offenbar schnell dunkelrote Hälse, wenn sie den grünen Lieblingsbegriff von der „sozialökologischen Transformation“ hören. Die Grünen dagegen sind in Nullkommanix auf der Ökopalme, wenn die Sozis mal wieder behaupten, sie würden „mit den Grundfunktionen der Stadt spielen und sich bei echten Problemen in die Büsche schlagen und in ihre Biotope zurückziehen“.
Am Ende sei man gemeinsam für das ganze Programm verantwortlich, betont Fegebank. „Dann geht es um die Stadt und nicht mehr um die Parteien – man wird dann nicht sagen können: Straßen oder Autobahnen sind rot und Radwege sind grün. Dann steht die Koalition gemeinsam für ihr ganzes Programm. Das werden wir auch hinbekommen.“ Das sieht auch SPD-Chefin Leonhard so. „In Corona-Zeiten müssen alle Abstriche bei ihren Vorhaben machen und das ist nicht immer ganz leicht“, sagt die als harte aber konstruktive Verhandlerin respektierte SPD-Chefin. „Ich bin aber guter Dinge, dass wir das hinbekommen.“ Auch SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf glaubt: „Wir kriegen das alles hin.“
Verhandler geben auch ihre Visitenkarten für den Senat ab
Wer von den hart feilschenden Damen und Herren im neuen Senat welches Ressort übernimmt – das wird bei solchen Verhandlungen stets erst am Ende entschieden. So will man verhindern, dass die leer Ausgegangenen mit schlechter Laune die Gespräche erschweren. Zugleich sind Koalitionsverhandlungen ja auch Bewerbungsläufe für Senatorenposten: Wer sich sattelfest, durchsetzungsstark und doch kompromissfähig zeigt, kann sein Standing bei den eigenen Leuten und der Gegenseite festigen. Wer sich dagegen schnaubend vergaloppiert, verschlechtert seine Chancen.
Klar ist, dass die Grünen künftig nicht mehr nur drei, sondern fünf der elf Senatorenposten beanspruchen werden, die es neben dem Bürgermeisteramt gibt. Bei ihnen gibt es wenig Bestrebungen, dafür den Senat zu erweitern – zumal das in Krisenzeiten schwer vermittelbar wäre und man dafür auch das Senatsgesetz ändern müsste. Da die Grünen das Verkehrsressort übernehmen wollen, die SPD aber das bisher in einer gemeinsamen Behörde angesiedelte Wirtschaftsressort auf jeden Fall behalten will, steht wohl ein Neuzuschnitt an. So könnte man Wirtschaft und Finanzen zusammenführen, glauben manche. Dass man, wie bisher angedacht, die kleine Gesundheitsbehörde ihrer Eigenständigkeit beraubt und sie etwa in die Sozialbehörde integriert, ist in Zeiten einer Pandemie dagegen nicht mehr so wahrscheinlich.
Hilft eine Extraportion Gummibärchen?
Wenn es um Behörden und Posten geht, könnte es am Ende, also spätestens Mitte Juni, noch einmal lange Nächte geben. Dann dürften aus dem von Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks beschriebenen „Ringen auf Augenhöhe“ noch einmal dunkle Ringe um die Augen werden.
Dafür, dass die Koalitionäre bis dahin nicht wegen Unterzuckerung doch die Schwerter ziehen oder durch das Hin- und Herrennen an der Tafelrunde nicht zu viel an Gewicht verlieren, haben zuletzt SPD-Innensenator Andy Grote und die Zweite Bürgermeisterin Fegebank gesorgt. Er brachte, so berichten es Teilnehmer, ausreichend Kinderschokolade mit in die Runde – und sie stiftete am Mittwoch eine Extraportion Gummibärchen. Ob‘s hilft, wird man am Sonntag sehen. Dann wird weiterverhandelt – und diesmal will man möglichst auch Ergebnisse aus den umkämpften Ressorts Wirtschaft und Verkehr präsentieren.
Erschienen als Kolumne „Die Woche im Rathaus“ im „Hamburger Abendblatt“ am 16. Mai 2020.