Dass Schwarz-Grün das Leitbild der „Wachsenden Stadt“ abgeschafft hat, erweist sich als Fehler. Vor allem die Wirtschaft beklagt, dass die ausgefeilte Wachstumsstrategie, die dahinter stand, durch den inhaltsleeren Slogan „Wachsen mit Weitsicht“ ersetzt wurde. Anstatt Hamburg mit einem Gesamtkonzept international gut zu positionieren, verkämpft sich der Senat im Klein-Klein und in der Schulreform. Wo er wirklich hin will, scheint er selbst nicht so genau zu wissen.
Dieser Stadt, so scheint es, ist etwas abhanden gekommen. Schleichend, man kann nicht einmal genau sagen, wann es begonnen hat. Aber die Aufbruchstimmung, die die ersten Jahre der Ole-von-Beust-Regierung auszeichnete, hat sich verkrochen irgendwo im herbstlichen Frühnebel zwischen Michel und Rathaus. Was hatte die Stadt Hamburg, die Helmut Schmidt einst als „schlafende Schöne“ bezeichnete, seit 2002 nicht alles getan, um sich selbst wachzurütteln. Für Olympia waren die Hamburger „Feuer und Flamme“, Sportstadt wollten sie sein und Wissensmetropole, und mit dem „Leitbild Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“ gab der Senat das ehrgeizige Ziel vor, größer und stärker zu werden, trotz des deutschen Geburtenrückgangs mehr Einwohner anzulocken und in der weltweiten Beachtung und Bedeutung zu Metropolen wie Barcelona, Mailand oder Toronto aufzuschließen.
Der schwarz-grüne Senat hat dieses Leitbild nach seiner Wahl Anfang 2008 abgeschafft. Das neue Motto „Wachsen mit Weitsicht“, das die Schwarz-Grünen erst ein Jahr später, Anfang 2009, eher verschämt vorstellten und danach nie wieder erwähnten, könnte künstlicher und korrekter und damit langweiliger kaum sein.
Für einen Kaufmann ist Weitsicht selbstverständlich
Dass man mit möglichst viel Weitsicht plane, sei für jeden hanseatischen Kaufmann eine Selbstverständlichkeit, das müsse man nicht extra betonen, findet Handelskammer-Hauptgeschäftsführer Hans-Jörg Schmidt-Trenz. „Viel zu kompliziert“ sei der Slogan und habe „keinen Sex-Appeal“, sagt Johann Killinger vom Hafenunternehmen Buss. Das Motto der „Wachsenden Stadt“ dagegen sei überraschend und einfach gewesen und habe einen „echten Weck-Effekt“ gehabt.
Auch ein halbes Jahr nach seiner Vorstellung hat der Senat das neue Leitbild nicht mit Leben gefüllt, wie jetzt die Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage des SPD-Fraktionsvorsitzenden Michael Neumann belegt. „Nach Abschluss der zurzeit noch andauernden Arbeit am neuen Leitbild soll das weiterentwickelte Leitbild ‚Hamburg: Wachsen mit Weitsicht‘ in den nächsten Monaten vorgelegt werden“, heißt es dort. „Die Einzelheiten stehen noch nicht abschließend fest.“ Die Leitprojekte „Sportstadt Hamburg“ und „Kulturmetropole Hamburg“ hat man schlicht gestrichen. „In einigen Monaten, das heißt in Wirklichkeit, in dieser Wahlperiode, kommt da gar nichts mehr“, fürchtet Neumann. Letztlich aber sei es „schlimmer, gar kein Konzept zu haben als ein falsches“.
Zwar war der in jeder noch so kurzen Senatsverlautbarung jahrelang mantraartig wiederholte Spruch von der „Wachsenden Stadt“ dem einen oder anderen gelegentlich auf die Nerven gegangen, weil man ihm nicht entrinnen konnte, weil er sich bald auf jedem Hamburger Baustellenschild wiederfand („Wachsende Stadt. Entschuldigen Sie die Behinderungen“) – ebenso wie auf jeder Pressemitteilung, die das ehrwürdige Rathaus verließ. Und doch sorgte das vom damaligen CDU-Finanzsenator Wolfgang Peiner und seinen Mitarbeitern entwickelte moderne Leitbild mit der Zeit für ein neues Selbstbewusstsein und für echte Aufbruchstimmung in Hamburg.
Die „Wachsende Stadt“ war nicht nur ein Spruch
Dabei geht es keinesfalls nur um ein Motto oder einen Werbespruch. Denn hinter dem von Peiner entwickelten Leitbild steckte ein tief greifendes Konzept, eine detaillierte Wachstumsstrategie für eine Stadt, die sich im globalen Wettkampf um Einwohner, Investoren und Wirtschaftskraft gut positionieren will.
Wer sich das aus dem Juli 2002 stammende, fast 80 Seiten starke Ursprungskonzept ansieht, findet nicht nur konkrete Ziele (Erhöhung der Einwohnerzahl und des Wirtschafts- und Beschäftigungswachstums, Zunahme der Wohnbau- und Gewerbeflächen und Steigerung der internationalen Bekanntheit). Er findet auch eine dezidierte Strategie zur Erreichung dieser Ziele – vom modernen Flächenmanagement über die gezielte Förderung von Kernbranchen wie Luftfahrt, Biowissenschaften, Medien oder Logistik mittels Clusterpolitik bis hin zu einer Neuausrichtung der Familienpolitik.
Wer dagegen nachsehen will, welches tiefere Konzept hinter dem schwarz-grünen „Wachsen mit Weitsicht“ steckt, der stößt auf gähnende Leere. Gerade einmal eine zweiseitige Pressemitteilung hat man dazu in den vergangenen anderthalb Jahren im schwarz-grün geführten Rathaus zustande gebracht – und eine DIN-A4-Seite mit einer überfrachteten Grafik unter der Überschrift „Hamburg soll international Maßstäbe setzen als eine wachsende Metropole der Talente, der Nachhaltigkeit und der Verantwortungsbereitschaft“.
„Metropole der Verantwortungsbereitschaft“ – Bitte, was?
Was aber soll man sich vorstellen unter einer „Metropole der Verantwortungsbereitschaft“? Auch Handelskammer-Hauptgeschäftsführer Schmidt-Trenz ist offenbar unzufrieden mit derlei aufgeblähten Wortungetümen. Eine einzelne Grafik könne kein Wachstumskonzept ersetzen, sagt er.
„Nach einem halben Jahr kann man feststellen, dass ‚Wachsen mit Weitsicht‘ leider kein neues Leitbild für Hamburg ist“, konstatiert auch Malte Wettern, Hamburger Vorsitzender der Jungen Unternehmer – BJU. Es habe auch keine Notwendigkeit bestanden, das alte, erfolgreiche Leitbild abzuschaffen. Kaum jemand werde durch das neue Motto berührt. Letztlich sei es nicht mehr als der „Arbeitstitel einer Klausurtagung in Lüneburg“.
Tatsächlich geistern derzeit vor allem inhaltsleere Slogans durch die Stadt, was Hamburg alles sein will. Vom alten „Tor zur Welt“ über die „Klimahauptstadt“ oder die „Green Capital“ bis zur „Kreativen Stadt“, der „Talentstadt“ oder der „Metropole der Nachhaltigkeit“.
An Etiketten herrscht kein Mangel, an Konzepten schon
Man brauche aber „keine Etiketten, sondern handfeste Politik“, die das Wachstum förderten, sagt Handelskammer-Hauptgeschäftsführer Schmidt-Trenz. Mit Hilfe des Gesamtkonzepts der „Wachsenden Stadt“ habe man weltweit Investoren angezogen. Man dürfe diesen Faden nicht abreißen lassen. „Wir brauchen Butter bei die Fische.“
Auch der Chef des Hamburger Sportbundes, Günter Ploß, betont, es gehe weniger um einen Sinnspruch. „Wir brauchen endlich ein klares und verlässliches Konzept – auch für den Sport“, sagt er.
Im Rathaus gibt man sich derweil zugeknöpft. Bevor man Konkretes verkünden könne, müsse man sich Ende des Monats bei der Senatsklausur auf die jetzt nötigen Sparmaßnahmen verständigen, sagt Senatssprecherin Kristin Breuer. Es bringe nichts, irgendwelche Projekte zu beschließen, die man hinterher gar nicht bezahlen könne.
Dabei geht es gar nicht in erster Linie um teure Projekte, sondern um die Fortschreibung einer klugen Wachstumsstrategie, die in allen Senatsentscheidungen berücksichtigt wird. Oder, wie es der Hamburger PR-Mann und frühere Senatssprecher Cord Schellenberg zusammenfasst: „Mit der Wachsenden Stadt erwachte Hamburg aus dem Dornröschenschlaf – jetzt muss die Stadt auch wach bleiben.“
Erschienen in der Welt am Sonntag und auf WELT ONLINE am 11.Oktober 2009. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns WELT-Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.