Natürlich ist es verboten. Trotzdem habe ich es getan. Immer und immer wieder. Ich saß in einem Restaurant am Hafen, draußen auf einer Gasse, und versündigte mich. Die Menschen drängten vorbei, es wurde enger und enger, die Gerüche nach gegrilltem Fisch, Parfums und Tabak wurden intensiver, während ich meinen Rosé trank (Rioja-Rosé, schon das eine Sünde).
Derweil hatte ich sie auf meinem Schoß liegen. Ich tat so, als sei nichts, ich redete mit meiner Frau, schimpfte mit meinen kleckernden Söhnen, orderte Fanta und Eis, und doch verfolgte ich (vollkommen unbemerkt) mein sündiges Tun mit der größten Akribie. Alle zwei Minuten drückte ich ab. Ich sah sie nicht einmal, meine Opfer, aber ich wusste, dass ich sie traf. Alle 120 Sekunden klickte meine Nikon. Ich legte Wert auf diesen exakten Abstand. Es war ein Experiment. Konzeptkunst. So etwas ist kein Spiel.
Zu Hause machte ich mich an die Auswertung. Es waren sehr hübsche Frauen auf den Fotos. Sich küssende Paare. Verwegen dreinschauende Halbwüchsige. Stutzig wurde ich bei dem Bild eines dicken Glatzkopfes, der ein junges Mädchen im Arm hielt. Sie könnte seine Tochter sein, dachte ich, bis ich die Hand unter dem T-Shirt sah, aber es gehörte nicht zum Konzept, sich darüber Gedanken zu machen.
Was geschieht eigentlich, wenn ich all diese Fotos als Kunstprojekt ins Internet stelle, sie beschrifte mit Ort und Datum?
Kürzlich war ich in einer Weltsehenswürdigkeit, und es gelang mir nicht, ein einziges Foto zu machen, auf dem nicht zwei bis fünf andere Menschen zu sehen war, die auch gerade ein Foto machten. Die Sehenswürdigkeit war vollkommen verdrängt durch ihre dilettantischen Abbildner. Es handelte sich, genau genommen, um das Verschwinden des Kunstwerkes hinter der Horde seiner Reproduzenten. Damals begriff ich, dass das Recht am eigenen Bild abgeschafft ist durch eine Wirklichkeit, in der jeder alles überall aufnehmen und veröffentlichen kann. Denn natürlich bin auch ich jetzt in japanischen Familienalben zu sehen oder auf Internetseiten, die ich nicht einmal kenne.
Ich habe Sie übrigens belogen. Ja, ich habe zwei, drei dieser Bilder gemacht, aber ich habe sie alle wieder gelöscht. Ich habe schließlich Prinzipien. Allerdings bin ich sicher, dass an einem der Nebentische oder in einer parallelen Gasse oder einer anderen Stadt zur selben Zeit auf dieselbe Weise fotografiert wurde und dass schon jetzt Tausende dieser Bilder im Internet zu finden sind. Sie sind sicher auch darauf zu sehen.
Erschienen am 3. Juli 2010 in der Rubrik „Hamburger Momente“ in WELT und WELT ONLINE. Basiert auf dem längeren Text „Sünden im Süden – jetzt kommt alles raus“ aus dem Sommer 2009. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.