Der bewegte Bürger

Hamburg ist spitze bei Bürgerbegehren und Volksentscheiden. Weil das Volk soviel selbst entscheidet, ist kein deutsches  Parlament machtloser als die Hamburgische Bürgerschaft. Vor allem die bürgerlichen Milieus haben die neue Protestkultur für sich entdeckt.

Es brodelt in der Stadt, und so wie es aussieht, steht dem schwarz-grünen Hamburger Senat ein heißer Herbst bevor. Fast 20.000 Menschen protestierten am Donnerstag mit einer Menschenkette gegen die Sparbeschlüsse des Senats. Im Schauspielhaus füllen die Theaterbesucher massenhaft ans Rathaus adressierte Protestpostkarten gegen die Kürzung der Zuwendungen aus. Seit Schwarz-Grün die Schließung des Altonaer Museums verkündet hat, erlebt das Haus einen Besucheransturm wie nie zuvor, und jetzt gründete sich sogar eine Bürgerinitiative zu seinem Erhalt.

Aber nicht nur aufgrund des angeblich härtesten Hamburger Sparpaktes aller Zeiten sind sich Senat und Volk derzeit nicht mehr richtig grün. Die Bürger misstrauen ihren Regenten und ihren Abgeordneten schon lange: In keinem anderen Bundesland gibt es mehr Volksinitiativen und Bürgerbegehren als in der Hansestadt. Das hat eine gerade erschienene Statistik des Vereins „Mehr Demokratie“ gezeigt. Allein 25 Initiativen hat es seit 1996 in Hamburg auf Landesebene gegeben; hinzu kommen 86 Bürgerbegehren auf der Ebene der Bezirke. Damit liegt Hamburg beim Bürgerengagement bundesweit an der Spitze. Das bedeutet auch: Nirgendwo wird den Politikern das Regieren so schwer gemacht. Nirgendwo ist das Parlament so schwach wie in Hamburg.

Selbst Abgeordnete misstrauen dem Parlamentarismus

So fahren selbst Abgeordnete mittlerweile zweigleisig – wie etwa Hamburgs Ver.di-Chef Wolfgang Rose. Der Gewerkschafter, der für die SPD in der Bürgerschaft sitzt, rief im Sommer eine Volksinitiative gegen weitere Privatisierungen mit dem klassenkämpferisch anmutenden Namen „Die Stadt gehört uns“ ins Leben. Die Ver.di- Initiative hat nicht weniger als eine Änderung der Hamburgischen Verfassung zum Ziel, nach der städtische Unternehmen nur noch privatisiert werden können, wenn die Bürger per Volksentscheid zustimmen. Der Bürgerschaft traut der Abgeordnete Rose offenbar nicht zu, ökonomische Fragen im Sinne der Allgemeinheit zu entscheiden. Dass selbst die Volksvertreter die repräsentative Demokratie für unfähig halten, Probleme im Sinne des großen Ganzen zu lösen, zeigt, wie tief die Krise des Parlamentarismus mittlerweile geht. Volksgesetzgebung ist das neue Mittel der Wahl in der Politik – und zwar keinesfalls in erster Linie für Gewerkschafter oder Linke.

Zuletzt verhinderte der tief im bürgerlichen Milieu verwurzelte Rechtsanwalt Walter Scheuerl mit seiner Initiative „Wir wollen lernen“ die Einführung der Primarschule – und fügte damit nicht nur dem schwarz-grünen Senat, sondern der gesamten Bürgerschaft, die sich einstimmig für die Reform ausgesprochen hatte, eine bittere Niederlage zu. Und den Regierenden droht weiteres Ungemach vom Stadtvolk. Wie in der vergangenen Woche bekannt wurde, streben nun auch die Gegner des letzten grünen Lieblingsprojektes, der Stadtbahn, einen Volksentscheid an – während zeitgleich die Volksinitiative Kita-HH die Kindergartengebühren in Hamburg per Volksentscheid vollständig abschaffen will.

Mittlerweile stöhnen sogar die Grünen, bisher stets glühende Anhänger von Plebisziten, über den penetranten Plebs. Der vom Volk dekretierte Ausbau staatlicher Leistungen bei gleichzeitiger Absenkung städtischer Einnahmen habe schon größere Staaten als Hamburg in die Pleite getrieben, etwa Kalifornien, warnte jüngst GAL-Fraktionschef Jens Kerstan.

Dass Parlamente besser mit Geld umgehen, ist eine kühne Behauptung

Dass die Parlamente seriöser mit den Steuermillionen wirtschaften als das Volk, ist allerdings keinesfalls belegt. Im Gegenteil: Wurden doch die Schuldentürme in Bund und Stadt (Hamburg wird bald mit rund 27 Milliarden Euro in den roten Zahlen stehen) durch Entscheidungen der Parlamentarier aufgeschichtet. „Die Behauptung, die Haushalte würden durch Volksentscheide kaputt gemacht, ist abenteuerlich“, konstatiert denn auch Manfred Brandt vom Verein „Mehr Demokratie“. „Das parlamentarische System war es doch, das die Finanzen der Allgemeinheit gegen die Wand gefahren hat.“

Anders als in den 70er- und 80er-Jahren trügen heute nicht mehr die Jüngeren die Proteste gegen die Politik der Parlamente, hat der Hamburger Politikwissenschaftler Michael Th. Greven festgestellt. Heute würden die über 40-Jährigen, mehrheitlich sogar die 50- bis 70-Jährigen den Widerstand organisieren – häufig mit Erfolg. Denn die Älteren seien oft nicht nur kompetent in ihrer Sache, sondern auch finanziell gut ausgestattet, was bei der Organisation größerer Kampagnen ein entscheidender Punkt ist. Dass die Regierenden sich mit einer seit Jahren wachsenden Protestkultur, vor allem aus den bürgerlichen Milieus herumschlagen müssten, hätten sie sich selbst zuzuschreiben, sagt Greven. Die Politiker hätten sich viel zu sehr von der Kommunikation mit den Bürgern aufs rein Formale zurückgezogen. Dabei sei es für erfolgreiche Politik nicht in erster Linie wichtig, dass ein Bebauungsplan über die vorgeschriebene Zeit ausgelegt werde. „Wichtig ist es, einen gesellschaftlichen Dialog über zentrale Fragen anzustoßen und ihn offensiv zu führen“, so Greven. Das habe die Politik in den vergangenen 20 Jahren kaum noch getan.

Protest allein ist nicht politisch – oft geht es um Partikularinteressen

Freilich mag der Politikwissenschaftler einen Großteil der bürgerlichen Initiativen gegen Fixerräume, Bauprojekte oder Verkehrssysteme auch nicht als genuin „politisch“ werten. In der Regel gehe es um Partikularinteressen. Politik sei eine Ebene über dieser reinen Interessenvertretung angesiedelt. Sie müsse per Dialog zu einem für die Gemeinschaft akzeptablen Ausgleich hinführen. Die wachsende Zahl von Volks- und Bürgerinitiativen spiegelt nach dieser Theorie vor allem eines wider: Politik wird ihrer wichtigsten Aufgabe nicht mehr gerecht – dem Ausgleichen divergierender Einzelinteressen.

Der Hamburger Gesellschaftsforscher Horst Opaschowski hat in dieser Woche dargelegt, wie sehr die Deutschen mittlerweile an der Zuverlässigkeit ihrer Repräsentanten zweifeln. 90 Prozent seien inzwischen der Meinung, Politiker seien „nicht mehr ehrlich“, sagte Opaschowski bei der Vorstellung einer neuen Studie. Vor acht Jahren habe der Wert bei 50 Prozent gelegen. Statt in Resignation zu flüchten, orientierten sich die Menschen jedoch an alternativen Gemeinschaftsstrukturen, die ihnen Sicherheit vermittelten und die Lösung von Problemen ermöglichten. Vor allem die weiter wachsende Wertschätzung der Familie zeige dies.

Den Schluss, es gebe einen weiteren Rückzug ins Private, lassen die Ergebnisse der Opaschowski-Studie allerdings nicht zu. Denn als Alternative für die beim Volk in Ungnade gefallene Politik gebe es ein wachsendes Interesse an Selbstorganisation durch Nachbarschaftshilfe – und an direkter Demokratie. Satte 78 Prozent der Bürger sehen in mehr Volksabstimmungen einen guten Weg. Fast zwei Drittel sagen, die Menschen könnten nicht mehr alle Probleme dem Staat überlassen, sondern müssten sich selbst gemeinschaftlich organisieren. Für Opaschowski ist diese Entwicklung keinesfalls betrüblich. Das Zurück zu mehr Eigenverantwortung zeige vor allem eines: „Die Zivil- und Bürgergesellschaft funktioniert.“

Für die politische Klasse dagegen dürften die Zeiten in Hamburg noch rauer werden. Nicht nur weil die Hamburger eine neue Lust an der (direkten) Demokratie, an dieser neuen Mitmach-Politik für sich entdeckt haben. Auch weil die massiven Einschnitte durch das Sparpaket erst noch kommen. Die wachsende Wut vieler Bürger habe sich die Politik auch in diesem Punkt selbst zuzuschreiben, findet Politologe Greven – weil sie keinen ehrlichen Dialog mit den Bürgern geführt habe: „Die Regierungen haben viel zu spät damit begonnen, den Menschen die Wahrheit über die Lage der Haushalte zu sagen.“

Erschienen am 3. Oktober 2010 in WELT AM SONNTAG und WELT ONLINE. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.
 
 

2 Kommentare

  1. Der angedeutete Widerspruch zwischen Parlamentarismus und direkter Demokratie ist keiner. Beides gehört in der modernen Demokratie zusammen (was gleichzeitig Widerspruch zur kühnen These ist, die direkte sei die höchste Form der Demokratie – Stichwort: Minarett-Verbote). Die erste erfolgreiche Volksinitiative (die zum Kinderbetreuungsgesetz 2003) war bezeichnenderweise eine von drei Bürgern, die in der SPD nicht ganz unwichtige Positionen innehatten – was damals kritische Stimmen hervorrief, die Parteien dürften die Mittel der direkten Demokratie nicht nutzen, sondern müssten sich auf den Parlamentarismus beschränken. Was ich schon damals ziemlich behämmert fand. Was aber ein prima Argument ist, wenn man die Kritik „der Parlamentarismus bringt´s nicht“ schon seit Jahren im Munde und sonst wo führe.
    Spannend ist auch die Frage – um die die Chronisten sich seit Jahren übrigens erfolgreich herumdrücken – ob es den Protagonisten der direkten Demokratie am Ende primär um eine Entmachtung der Parteien geht, um das entsprechende Vakuum mit einer Diktatur der Volks-Funktionäre zu ersetzen. Weil der Vergleich hinkt, sei er erlaubt: So was hatte Pol Pot in Kambodscha vor.

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