Am 16. Januar 2012 starb die elfjährige Chantal in einer Pflegefamilie in Hamburg-Wilhelmsburg an einer Methadonvergiftung. Wie WELT ONLINE recherchierte, waren die von der Stadt für das Kind ausgewählten Pflegeeltern drogenabhängig. Ein Kommentar.
Die Stadt Hamburg hat ein achtjähriges Mädchen in eine Pflegefamilie mit offenbar drogenabhängigen Pflegeeltern gegeben. Da ist ein wegen Drogendelikten vorbestrafter Pflegevater, der gefährliche Hunde hält, eine Pflegemutter, die nach früherer Heroinsucht jetzt Ersatzdrogen nimmt, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und eine erwachsene Tochter hat, die wegen Kokainbesitzes im Gefängnis saß.
Würde jemand diese Geschichte als Drehbuch verfassen – niemand würde sie ihm abkaufen. Zu unglaubwürdig. Im Bezirk Mitte allerdings, wo vor fast drei Jahren schon die kleine Lara Mia stark unterernährt in einer vom Amt betreuten Familie starb, scheint genau dies geschehen zu sein. Wieder in Mitte.
Nachdem Chantal gut drei Jahre lang in der Wilhelmsburger Junkiefamilie gelebt hatte, ist sie am 16. Januar mit elf Jahren an einer Methadonvergiftung gestorben. Und was sagt der verantwortliche Bezirksamtsleiter Schreiber nach Bekanntwerden der Todesursache? „Wir achten aufs Kindeswohl, und das Kindeswohl war nicht gefährdet.“
Kindeswohl nicht gefährdet? In einer Junkiefamilie? Bei solchen Aussagen fragt man sich, ob sich die Verantwortlichen in Mitte womöglich selbst im kollektiven Drogenrausch befinden. Erst langsam räumt Schreiber Fehler ein. Er wisse gar nicht, ob die Familie auf Drogensucht überprüft worden sei. Er lasse sich jetzt alle Akten kommen. Zehn Tage nach Chantals Tod. Komischerweise wusste Herr Schreiber aber ja schon vorher, dass das Kindeswohl nicht gefährdet war. Wer so arbeitet, sollte besser einen Job übernehmen, bei dem er nicht für das Wohl von Kindern zuständig ist.
SPD-Sozialsenator Scheele äußerte sich tagelang gar nicht, auch nicht auf Nachfrage, und reagierte auf den wachsenden Druck erst am späten Donnerstag.
Und der verantwortliche Träger „Verbund sozialtherapeutischer Einrichtungen“? Der schickte die Fragesteller telefonisch hin und her und entschuldigt sich, man sei eben „dezentral organisiert“.
2005 verhungerte Jessica in Jenfeld. 2009 starb Lara Mia unterernährt in Wilhelmsburg. Jetzt, nicht weit entfernt, Chantal in einer Junkiefamilie. Auch sie in Obhut des Jugendamtes, für das Bezirkschef Schreiber und der langjährige Chef des Jugendhilfeauschusses, Johannes Kahrs, die Verantwortung tragen.
Manchmal erscheint es wohlfeil, nach personellen Konsequenzen zu rufen. Nach Lara Mias und Chantals Tod ist es angebracht. Es muss in Hamburg-Mitte jemand die Verantwortung für das Wohl der wehrlosen Kinder übernehmen, der dieser Aufgabe auch gewachsen ist.
Erschienen am 27. Januar 2012 in WELT und WELT ONLINE. Den aktuellen Artikel zu dem Fall lesen Sie hier. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel „Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind“ auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.