Die Deutsche Post spart weiter bei der Kundenberatung. Dabei versteht nur jahrelang geschultes Fachpersonal das wirre Portosystem der einstigen Staatslogistiker. Ein erschütterndes Beispiel aus dem Hamburger Alltag.
„90.“
„Nee: 1,45.“
„Quatsch: 90.“
Ich stehe daneben, wie sie streiten, die Lottoladenfrau mit der rauchigen Stimme und der Schnauzbart mit Cappi und handschuhgroßem Kreuz um den Hals. Es geht um Briefmarken, wer kennt sich heute noch mit Briefmarken aus?
Früher gab es hier mal einen ordentlichen Beamtentresen, da hätte man gewusst, was auf meinen DIN-A-5-Briefumschlag zu kleben wäre. Aber jetzt existiert in diesem postverlassenen Teil Hamburgs nur noch dieser Lottoladen, der neben Glück, Zigaretten und Gazetten auch Briefmarken verkauft.
„Moment, ich guck ma ins Buch“, sagt die Lottofrau, und zieht zwei zerknautschte Hefte unterm Tresen hervor. „Welches war es noch?“
„Also“, räuspert sich der Bekreuzte, „eigentlich wollte ich nur Tabak.“
Und fügt, während die Lottofrau ihm wortlos ein Päckchen rüberreicht, lakonisch hinzu: „1,45. Ich sags Euch, einmal im Monat schick ich son Brief ans Amt. Immer 1,45.“
Sie hört nicht hin und wälzt eines der Büchlein.
„Hmm, was ist das denn hier also nun?“
Sie beäugt meinen Umschlag so argwöhnisch, als sei er gerade von einem UFO über ihrem Zeitschriftenregal abgeworfen worden. Großbrief? Maxibrief? Infopost? Standard? DIN B6? Oder C6? DIN lang?
„Ha!“, ruft sie nach zehn oder zwanzig Minuten und tippt energisch auf eine eingerissene Seite des 40seitigen ofiziellen Deutsche-Post-Porto-Guides. „Hier! 90 Cent, sag ich doch. Wenn er unter 100 Gramm wiegt.“
„1,45“, näselt das Cappikreuz ungerührt, während es sich die dritte Vorratskippe dreht.
Sie legt meinen Brief auf die flache Rechte und wirft ihn in die Luft. „20 Gramm vielleicht.“
Eine Waage hat sie natürlich nicht. Ist ja nicht die Post hier.
Ich vertraue ihr und kaufe eine 90er. Sie ist schließlich seit 30 Jahren Lottofrau.
„Um sicher zu sein, können Sie den Brief drüben in der Apotheke wiegen lassen. Das machen die oft für mich. Grüßen Sie schön.“
Die Apothekerin nickt.
15 Gramm.
„Ein Briefkasten ist hier aber nicht. Da müssen Sie ein paar hundert Meter die Straße hoch.“
Tatsächlich.
Am nächsten Tag liegt der Brief bei mir zuhause im Kasten. Mit einem gelben Aufkleber drauf: „Sehr geehrter Kunde. Bei dieser Sendung wurden leider die zulässigen Entgelte, Gewichtsstufen oder Maße nicht eingehalten. An dem zu entrichtenden Entgelt fehlen 0,55 Euro.“ Dazu noch diese „Produktinformation: Großbrief 1,45 Euro, 500 Gramm, L: 100-353mm, B:70-250mm; Maxibrief 2,20 Euro, 1000 Gramm, L: 100-353.“ Und noch ein paar Tausend kleingedruckte Kategorien.
In diesem Moment weiß ich: Die Deutsche Post macht es nicht mehr lange. Es sei denn, ihre Gebührenordnung passt bald mal auf einen Bierdeckel. Oder sie öffnet alle ihre Beratungszentren wieder.
Aber ich habe auch noch etwas anderes gelernt: Am Ende, da kann man glauben was man will, haben immer die Männer mit den Kreuzen Recht.
In gekürzter Form erschienen am 3. März 2012 in WELT und WELT ONLINE in der Rubrik „Hamburger Momente“. Eine Sammlung von Jens Meyer-Wellmanns Kolumnen über den alltäglichen Familien- und sonstigen Wahnsinn gibt es unter dem Titel “Schrei mich nicht an, ich bin ein Wunschkind” auch als eBook bei Amazon, und zwar hier.