Bisweilen ist es besser, die eigene Wahrnehmung für sich zu behalten. Auch wenn es stinkt.
Es ist nicht unbedingt ein Zeichen göttlicher Gnade, wenn ein Mensch gezwungen ist, Brot und Margarine mit etwas zu verdienen, das ihn anwidert. Weil er zum Beispiel im Gestank stehen muss.
Ich weiß das, weil ich mal am Fließband gearbeitet habe. Fischstäbchen, Bremerhaven. Ich stand ganz vorne und musste ab 4.45 Uhr 7,5 Kilo schwere gefrorene Fischplatten von ihrer Papphülle befreien und den gepressten Frostfisch aufs Band schieben.
Immer mal fiel was runter und schmolz und dampfte, und es stank schon gegen halb sechs schlimmer als bei Verleihnix, und wenn ich mittags im Bus nach Hause fuhr, setzte sich nie jemand vor, hinter oder neben mich.
Halb taub war ich damals nicht nur vom Radau der Maschinen, sondern auch vom Geschrei der Türkinnen, die losbrüllten, wenn ich mal zu langsam war und sie um ihren Akkordzuschlag fürchten mussten.
Lehrern sagt man nach, sie hätten im Vergleich dazu nichts auszustehen. Das ist natürlich bestenfalls die halbe Wahrheit, denn Sportlehrer zum Beispiel stehen auch im Gestank. Vor allem, wenn sie Pubertierende beim Zirkeltraining überwachen, die noch nicht begriffen haben, dass sie nunmehr zur Bildung von Achselschweiß neigen.
Vielleicht kam eine Lehrerin meines Sohnes deswegen kürzlich mit einem T-Shirt in den Sportunterricht, auf dem „Sport ist scheiße“ stand. Geniale Dialektik, die sich den Schülern aber nicht erschloss. Sie befanden: „Wenn hier was scheiße ist, dann Ihr T-Shirt!“
Am Ende schaltete sich der Direktor ein, rügte die Sporthasserin und verordnete ihr ein neutrales Trikot.
Es ist eben nicht immer klug, die Wahrheit zu sagen (oder zu schreiben). Schon gar nicht, wenn es stinkt.
Erschienen am 3. November 2012 in DIE WELT.