Gratisessen, eigenes Fitnessstudio und Entspannung im Würfel-Pool: Google weiß, wie man das Personal bei Laune hält. Und neue Ideen fördert. Wer hier arbeitet, darf 20-Prozent der Arbeitszeit für eigene Projekte einsetzen. Chefs, die sich wichtig machen, sind nicht erlaubt.
Schön, was heißt hier schön? So einfach ist das nicht. Als ein Designer dem Google-Gründer Larry Page vor vielen Jahren das Muster eines kräftigen Blaus vorlegte, in dem einer der Buchstaben des Suchmaschinenlogos erscheinen sollte, fragte ihn Page, warum es denn nun ausgerechnet dieses Blau sein sollte.
Weil es schön sei, das schönste Blau überhaupt, antwortete der Designer.
„Beweise es mir!“, forderte Page. Also stellten die Googelianer 50 Blautöne online und ließen die vernetzte Welt über die Frage abstimmen, was schön ist. Danach wählten sie das Blau aus, das die meisten Klicks bekommen hatte.
Ingenieure der Zukunft
Ist das eine neue Form der Demokratie? Schwarmintelligenz? Oder spiegelt diese Anekdote, die sie sich bei Google gerne selbst erzählen, die Abschaffung des Schönen zugunsten des Massengefälligen wider? Man könnte lange darüber streiten, aber bei Google streiten sie über so etwas nicht. Schon gar nicht lange. Googelianer, so sehen sie sich, sind Ingenieure der Zukunft. Für sie zählen nur Daten. Und eben: Klicks.
Mancher wundert sich, dass sie trotzdem einen Sinn für das Ausgefallene haben, wie es die Deutschland-Zentrale an der Hamburger ABC-Straße zeigt. Rund 300 Anzeigenverkäufer, Finanzfachleute, Personaler und Online-Marketingstrategen arbeiten hier. Sie verteilen sich auf fünf Stockwerke, die jeweils ein Leitmotiv haben: Transport, Nightlife, Medien und Entertainment, Wasser, Sport. Sie treffen sich in bunten Konferenzräumen, die „Schietwetter“, „Casino“ oder „YouTube“ heißen und in deren Wänden riesige Videobildschirme eingelassen sind. Wenn die Mitarbeiter Ruhe brauchen, zum Telefonieren, Videokonferieren oder für einen kleinen Plausch unter Kollegen, dann buchen sie sich über das Firmennetz in kleine Solozellen ein, die allesamt liebevoll individuell gestaltet sind.
Hauseigenes Fitnessstudio, gratis Essen
Sie treffen sich in Räumen, die aussehen wie die alte Hamburger U-Bahn, in der Kantine, in der alle Mitarbeiter gratis essen, oder in lustigen Gruppenseparees, die wie Flugzeugabteile gestaltet sind oder in denen massenhaft Matchboxautos an den Wänden kleben. Wer abspannen will, kann ins hauseigene Fitnessstudio gehen und sich von einem der fest angestellten Trainer in Form bringen lassen. Die Firma zahlt. Oder er holt sich Kaffee und Knabberzeug, das es bei Google in Minikiosken natürlich auch gratis gibt. Man kann auch eine Runde Fifa 2013 mit Kollegen an der Playstation oder eine Partie Billard am hauseigenen Tisch spielen oder sich den Stress mal schnell rausflippern. Wenn gar nichts mehr hilft, wirft man sich kreischend rittlings in den Pool, der mit türkisfarbenenen Schaumstoffwürfeln gefüllt ist. Danach ist alles gut.
Google hat sich vor mittlerweile zehn Jahren ziemlich genau zwischen dem Verlagsgebäude von Axel Springer an der Caffamacherreihe und dem Gänsemarkt angesiedelt, und nicht nur Journalisten und Verlagsstrategen rätseln bis heute, was das Geheimnis dieses so bunt daherkommenden Unternehmens ist. Wieso sind die so kreativ? Wie bringen sie ihre Mitarbeiter zu immer neuen Überraschungserfolgen und halten sie auch nach Flops bei so guter Laune?
Spielplatz für Berufsjugendliche
Als Besucher fragt man sich, ob man sich in dieser vor einem Jahr neu gestalteten schrillen Bürolandschaft eher an Disneyland oder an einen Indoor-Spielplatz für Berufsjugendliche erinnert fühlt, von denen viele Bärte tragen und niemand einen Anzug, die fast alle lächeln und sich alle duzen wie in der Ikea-Werbung. Wo ist der Haken? Laufen hier nur Schauspieler durch die kolorierten Korridore, und die wahren Digitalsklaven sitzen derweil im Keller? Bunte Sessel und Caféecken in Neonlila allein können doch wohl nicht innovativ und kreativ machen, oder doch?
„Manche Besucher meinen, es sieht hier aus wie im Kindergarten“, sagt der Personalchef von Google-Nordeuropa, Frank Kohl-Boas. „Aber die Einrichtung allein ist es ja nicht. Ein Großteil deines Lebens verbringst du mit Arbeit, hoffentlich mit Arbeit, die du gerne und damit auch erfolgreich machst“, sagt der gelernte Jurist, der lange in Australien gearbeitet hat und gerne lustige englische Ausdrücke einstreut. „Also wollen wir dir die Zeit hier so angenehm wie möglich gestalten. Wir wollen, dass du den Kaffee hier trinken und dich mit Kollegen austauschen kannst und nicht zum Gänsemarkt gehen musst.“ Und klar, „wenn du nach Feierabend noch ein Bier trinken willst, aber dein Kühlschrank leer ist, dann nimmst du dir eben hier eins und spielst noch eine Partie Billard beim Absacker.“ Kreativität entsteht im Zusammensein, das ist der Glaube, der hinter all dem steckt.
Systematisches Homeoffice ist nicht gefragt
Dass die Leute bei Bedarf auch mal von zu Hause arbeiten, ist zwar okay. Systematisches Homeoffice wollen sie bei Google aber nicht. Es ist besser, hier zu sein, bei den anderen. „Je mehr Ideen ausgetauscht werden, umso mehr Kreativität kann entstehen“, sagt Kohl-Boas. „Jede Idee braucht Resonanz.“
Coole Räume allein reichen allerdings nicht aus, damit Ideenkeime fruchtbar werden. Es gehört auch ein anderes Denken dazu, eine andere Unternehmenskultur. Informationen müssen zum Beispiel von allen mit allen geteilt werden. In traditionellen Unternehmen passiert das eher nicht. Da sichern die Führungsfiguren ihre Macht oft durch Herrschaftswissen ab. Der Chef besitzt die meisten und wertvollsten Informationen und bezieht einen Großteil seiner Macht aus seinem Wissensvorsprung. Deswegen teilt er sie auch nicht mit jedem. Das sei Gift für eine Kultur der Innovation, sagen sie bei Google. Das gilt auch für Projekte. Wenn hier ein leitender Angestellter versucht, Erfolge seiner Gruppe für sich allein einzustreichen, hat er schnell einen internen Shitstorm am Hals. Alle, die an neuen Ideen mitwirken, werden genannt. Wirklich alle.
Niemand macht den Dicken
Alle haben dieselben Rechte. Da kann auch schon mal ein einfacher Mitarbeiter den Personalchef aus dem Konferenzraum „YouTube“ werfen, wo der gerade der „Welt am Sonntag“ ein Interview geben will. Schließlich habe er sich zuerst eingebucht, so der junge Mann. Also machen wir Platz und suchen uns zusammen mit dem Nordeuropa-Personalchef ein anderes Eckchen.
Hier gibt es eben kein „Chip on shoulder“ sagt Kohl-Boas. Zu Deutsch: Niemand macht den Dicken und provoziert damit die anderen.
„Wir sind ein ingenieurgetriebenes Unternehmen. Und bei Ingenieuren zählt nur das Argument“, sagt der zweifache Vater, der früher für Unternehmen wie Coca-Cola, Shell und Unilever das Personal verwaltet hat. „Angstfreies Arbeiten ist eine wesentliche Voraussetzung für Kreativität. Das erwarte ich heutzutage von jedem Unternehmen, dass es respektvoll mit seinen Mitarbeitern umgeht und nicht mit der Haltung: ,Sklave, sei mal dankbar, dass du hier arbeiten darfst.'“ Führungskräfte müssten einen Rahmen schaffen, „in dem jeder sein kann, wie er ist, mit seiner Kleidung, seiner Meinung sowie seiner sexuellen und religiösen Ausrichtung“.
Bei all dem gibt sich Google auch im Alltag fürsorglich. Jetzt haben sie zum Beispiel gerade in der Hamburger Kantine die Größe der Teller reduziert. Nachnehmen kann man, so oft man will. Und es kostet nichts. Aber ein voller Teller macht schneller satt – auch wenn er kleiner ist. Und man soll ja in Form bleiben. Auf den Tischen stehen jetzt auch keine Salzstreuer mehr. Wer nachsalzen will, muss zurück zum Büfett. Salzarme Ernährung: gut für die Gesundheit, gut für die Zukunft, gut für Google.
Gleichberechtigter Zugang zur Technologie
Aber nicht nur gesundes Essen, bunte Büros und Informationsgleichheit gehören zur Google-Philosophie – sondern auch ein gleichberechtigter Zugang zur Technologie. Smartphones oder moderne Netbooks sind keine Statussymbole der „Teppichetage“, sagt der Personalchef – wie es bei traditionellen Unternehmen oft bis heute ist. Jeder darf sich aussuchen, ob er lieber einen Apple- oder einen Windows-Rechnern haben will.
Und trotzdem: Auch Nerds haben Stress. Bei der jüngsten Mitarbeiterbefragung wurde etwa über „information overload“ geklagt. Und darüber, dass es auch bei Google kein Rezept gegen das Absaufen der Mitarbeiter in der digitalen Nachrichtenflut gibt. Auch hier grübelt man noch, wie mit dieser neuen Gefahr für den menschlichen Geist und den betrieblichen Umsatz umzugehen ist.
„Sie können späte Mails verbieten, aber dann schreiben die Leute sie vor und verschicken die alle am Montag morgen“, sagt Kohl-Boas. „Wir wollen dagegen die Eigenverantwortung stärken.“ Niemand müsse am Wochenende Mails beantworten, behauptet er. Auch nicht, wenn sie vom Chef kämen.
Mit Tricks der Informationsflut begegnen
Es gibt offenbar auch noch ein paar andere Tricks, um die Kommunikation, die für die Kreativität unerlässlich ist, im Übermaß aber an den Nerven und der Gesundheit zerrt, auf ein verträgliches Maß zu reduzieren: Nicht immer alle in CC setzen, etwa. Oder sich bei Anfragen vorab für die Antwort bedanken, dann muss man nicht noch drei Mails im höflichen Schlussdialog verschicken. Und auch die Einträge im Abwesenheitsassistenten formuliert der eine oder andere Googler anders: „Ich bin im Urlaub. Wenn Sie möchten, dass ich Ihre Mail lese, dann schreiben Sie mir bitte nach meiner Rückkehr noch einmal.“ Andernfalls warten auf den Rückkehrer 3000 zu lesende Mails, und die Erholung ist sofort dahin.
Eine weitere Möglichkeit: Kommunikationskanäle reduzieren. Wenn der Mensch neben persönlichen Anfragen und Mails und Chats und Nachrichten aus sozialen Netzen und Faxen und Briefen auch noch ständig Anrufe auf dem festen oder mobilen Telefon beantworten muss, dann läuft er womöglich irgendwann Amok durch die schöne bunte Bürolandschaft. Also verzichten sie intern immer stärker auf die Telefoniererei. Wenn es weniger klingelt, sinkt auch der Geräuschpegel.
20-Prozent-Regel für eigene Ideen
Dauerentspannt sind sie aber auch hier nicht. „Hier fliegt nicht jeder mit dem Teppich herum und verbringt zwei Stunden beim Essen und sagt, die Welt ist rund und geht wieder“, sagt der Personalchef. „Auch bei uns gibt es mal Schweiß und Tränen und Verzweiflung.“
Aber die Leute wissen, dass sie Zukunft haben, dass sie die Zukunft sind. Hier strampelt niemand ums Überleben, wie viele Kollegen in den alten Branchen, die noch immer nicht genau wissen, ob sie sich in die neue digitale Welt werden retten können. Hier boomt und brummt es, hier sitzen die Gewinner. Wer hier arbeitet, weiß, dass er die Welt mit einer guten Idee verändern kann. Und jeder soll die Chance dazu haben.
Deswegen hat Google die 20-Prozent-Regel eingeführt. Jeder Mitarbeiter hat ein Fünftel seiner Arbeitszeit zur freien Verfügung – um sich eigene Projekte zu überlegen und an neuen Ideen zu feilen. Auf diese Weise ist Google News entstanden. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat Google-Mitarbeiter Krishna Bharat beim Lesen all der furchtbaren Nachrichten im Netz plötzlich gedacht, wie gut es wäre, alles auf einen Blick zu sehen. Heute nutzt die ganz Welt die News-Seite von Google, und ihr Erfinder Bharat leitete die Abteilung. Das mit den 20 Prozent ist allerdings mehr eine symbolische Ansage – denn bei Google wird die Arbeitszeit gar nicht erfasst. Die Leistung wird allein über den Output gemessen. Für jedes Quartal werden Ziele vereinbart.
Gespräche statt Betriebsrat
Fragt man Gewerkschafter nach Google, dann zucken sie mit den Achseln. Die Arbeitnehmervertreter haben kaum eine Ahnung, was sich in dieser Branche tut. Der Organisationsgrad geht gegen null. „Bei uns gibt es keinen Betriebsrat“, sagt der Personalchef. „In Wahrheit sind alle Mitarbeiter Betriebsräte.“ Man arbeite lieber im direkten, offenen Gespräch. So gibt es jeden Freitag ein Treffen in der Kantine, das TGIF, Abkürzung für „Thank God it’s Friday“. Dabei stellen sich Direktoren und Manager den Fragen der Mitarbeiter.
Angeblich geht es dort auch mal hart zur Sache. „Aber es herrscht eine starke Can-do-Mentalität“, sagt Personalchef Kohl-Boas. „Wir wollen, dass die Menschen hier selbstbewusst auftreten können. Weil das einfach ein guter Platz ist, um für sich freie Entscheidungen zu treffen. Um eine Meinung zu äußern. Wir wollen ein Arbeitsumfeld, in dem die Leute morgens um acht schon sagen: Hab ich Lust drauf. Und nicht: Wie viel Schmerzensgeld gibt es heute für den Tag?“
Erschienen am 31. März 2013 in DIE WELT.