Seit meiner Kindheit habe ich bei jedem Spiel des Hamburger SV mitgefiebert. Nun frage ich mich, ob ich das, was bei meinem Verein passiert, noch ertragen will. Ein Ultimatum an mich selbst.
Gleich beim ersten Mal stand ich im falschen Block. Vielleicht war das ein schlechtes Omen, aber in Wahrheit kamen danach ja erst einmal die guten Zeiten. Ich war zehn, und der HSV spielte im Volksparkstadion gegen den 1. FC Köln: Kargus im Tor und vor ihm Hidien, Reimann, Kaltz und Co.
Wir gewannen 2:1, aber ich durfte nicht zu laut jubeln.Mein Vater, damals wie heute kein sehr geübter Stadion-Gänger, hatte versehentlich Karten für den Gästeblock gekauft, und zwischen den erst sehr lauten und am Ende sehr schlecht gelaunten Köln-Fans wedelte ich lieber nicht zu auffällig mit meiner HSV-Fahne. Damals war das noch die Regel: Dass die Gäste schlecht gelaunt waren und nicht die Gastgeber.
Auch ich bin nie ein geübter Stadion-Gänger geworden. Ich gehe nur gelegentlich in den Volkspark, und für eingefleischte HSVer, die zu jedem Auswärtsspiel mitfahren, bin ich natürlich gar kein echter Fan. Ich bin auch kein Experte, nicht immer bin ich auf der Höhe der aktuellen Taktiken oder Transfergerüchte.
Große Spiele als schönste Kindheitserinnerungen
Und doch gab es seit jenem Sieg gegen Köln im Oktober 1976 keinen Spieltag, an dem ich nicht mit den Rothosen gefiebert hätte, am Radio, am Fernseher oder am Weltempfänger, wie in den frühen 80er-Jahren, als ich mit meiner Familie im Ausland lebte – und seit ich selber zwei Söhne habe auch wieder häufiger im Stadion, wie auch immer das gerade heißt.
Zuletzt aber habe ich mich gefragt, ob man seinen Kindern das in diesen Zeiten eigentlich zumuten darf: als HSV-Fan aufzuwachsen. Zu meinen schönsten Kindheits-Erinnerungen gehören Stadionbesuche, die mit hohen Siegen endeten, wie beim 5:1 im Halbfinal-Rückspiel gegen Radnicki Nis im April 1982.
Damals machten Hartwig, von Heesen und Magath schon vor der 60. Minute alles klar. Wenn ich heute mit meinen Jungs ins Stadion gehe, kommen wir fast immer mit hängenden Köpfen nach Hause. Natürlich gehört auch das Verlieren dazu. Aber mal zu gewinnen, vielleicht sogar mal hoch oder ein paar Mal hintereinander – das sollte auch dazugehören.
Und doch: Ich habe das, was sich in den letzten Jahren bei meinem Verein abgespielt hat, leidend und mäkelnd, aber am Ende gleichmütig hingenommen – was in einem Umfeld nicht leicht ist, in dem es von hämischen Werder- und FC-St.-Pauli-Fans nur so wimmelt.
Als der HSV zum Beispiel 2009 drei der vier Partien in Pokal, Uefa Cup und Liga gegen Bremen verlor, musste ich meinem Chef danach wegen einer Wette wochenlang seinen Nachmittagstee kredenzen – und dazu jeweils laut „Lang lebe Werder Bremen“ rufen. Eine Zumutung, aber gerade noch verkraftbar. Genauso wie Derby-Niederlagen gegen St. Pauli. Man leidet mit seinem Verein, das gehört schließlich dazu.
Das vergangene Wochenende aber hat für mich alles verändert. Zum ersten Mal habe ich mich gefragt, ob ich mir den HSV nicht aus dem Kopf schlagen sollte. Nicht allein wegen der sechsten Niederlage in Folge, bei der viele Spieler wirkten, als gehe sie dieser Verein in Wahrheit gar nichts an. Nicht weil es das dritte 0:3 in drei Spielen war.
Lustlosigkeit, Realitätsflucht, Gewalt und Feigheit
Eher schon, weil Vorstand und Sportchef sich danach hingestellt und so getan haben, als könne man einfach so weitermachen. Und weil dann der Frust vor dem Stadion plötzlich bei einigen in blinde Gewalt umgeschlagen ist. Und weil schließlich, Sonntagnacht, der Aufsichtsrat nach mehr als acht Stunden ergebnisloser Tagung durch die Hintertür oder die Garage aus dem Elysée getürmt ist – ohne den wartenden Reportern und damit auch all den Fans in der Stadt zu sagen, was nun mit dem HSV passieren soll.
Es war plötzlich alles nur noch abstoßend an meinem Verein: Lustlosigkeit bei den Spielern, Realitätsflucht beim Vorstand, Aggression bei den Fans und Feigheit beim Aufsichtsrat.
Will man Anhänger eines solchen Vereins sein?
Wie sollen denn die HSV-Spieler ihr Herz in die Hand nehmen, ihre Ängste überwinden und im Abstiegskampf alles geben, wenn die Herren aus dem Aufsichtsrat keine Entscheidungen fällen können und am Ende sogar vor ein paar Reportern Schiss haben?
In den Stunden vor dieser Blamage, in denen ich wie Tausende andere noch auf das Ergebnis der Sitzung (und insgeheim auf die Ankunft des Heilands Felix) wartete, zeigte Hamburg1 immer wieder dieselbe Reportage. Darin war ein Vater vor dem Stadion zu sehen, der auf seinen Sohn zeigte und bellte: „Der ist 22, und der hat hier nicht einen Pokal gesehen. In München ärgert sich nur der Putzmann, der all die Pötte abstauben muss.“ Ein anderer Fan grummelte: „Das kommt, weil die Politiker hier das Sagen haben.“
Ich habe mich dann beim Warten, „Tatort“-Sehen und Twittern gefragt, wie das passieren konnte. Wieso das Beste, das im Volkspark in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, der Bau des neuen Stadions war (wenn auch einige Firmen dabei pleitegingen).
Fing das an, als Politiker den Verein übernahmen?
Fing wirklich alles damit an, dass ahnungslose Politiker sich des Vereins bemächtigten? Begann die Misere damit, dass vor mehr als 15 Jahren die früheren SPD-Senatoren beim HSV das Ruder übernahmen, erst Volker Lange, dann Werner Hackmann? Und dass sie von einem Aufsichtsrat kontrolliert wurden, in dem ihre Genossen Ex-Senator Fritz Vahrenholt (SPD) und Ex-Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) saßen?
Sind also die Sozis schuld? Wohl kaum. Andererseits erschließt sich auch nicht, woher all diese Politiker plötzlich die große Fußballkompetenz genommen haben sollen.
Ähnliches gilt für den jetzigen Vereinschef, Carl-Edgar Jarchow. Er sitzt bekanntlich nebenbei für die FDP in der Bürgerschaft und ist dort für die Innenpolitik zuständig. Das ist angesichts der jüngsten Gewalteskalation rund um die Rote Flora gerade ein ziemlich wichtiges Thema. Ich weiß nicht, wie Jarchow das schafft, wenn er zugleich einen Erstligisten vor dem Abstieg retten muss.
Vielleicht geht es ja, schließlich ist die Bürgerschaft ein Feierabendparlament. Andererseits erinnere ich mich gut daran, wie der SPD-Abgeordnete und Reeder Erck Rickmers 2012 die Rückgabe seines Mandats begründete: Er müsse sich mit ganzer Kraft um sein angeschlagenes Unternehmen kümmern.
Manche lästern, Jarchow könnte ja nach Vorbild der FDP-Zweitstimmenkampagnen in den nächsten Wochen die Gegner des HSV um Punkte anbetteln. Ich finde das nur bedingt lustig. Ich frage mich aber schon, ob der Vorstandschef wirklich alles richtig macht, ob er wirklich genug Ahnung von dem Geschäft hat, das er da betreibt.
Ich habe zum Beispiel nicht verstanden, warum er einen Sportchef von einem Drittligisten geholt und für ihn auch noch Ablöse gezahlt hat. Auch nicht, warum mitten in der Krise ein Stürmer wie Rudnevs weggegeben wurde. Oder ein Spieler wie Aogo. Ich verstehe sowieso nicht, warum wir seit Jahren immer alle gehen lassen, die gut sind.
Ultimatum eines Feierabend-Fans
Und ich verstehe nicht, wie man an einen Trainer glauben kann, der sechs Spiele in Folge verloren hat, die letzten drei mit 0:3. Unter konstanter Leistung stelle ich mir etwas anderes vor. Ich glaube auch nicht, dass ein sympathischer Trainer, der aufgrund seiner unbestrittenen Qualitäten mal Vizeweltmeister geworden ist, deswegen auch Abstiegskampf mit den Djourous und Manciennes dieser Welt kann. Ich glaube, dass so einer das vielleicht gerade gar nicht kann.
Aber, wie gesagt: Ich bin kein Experte. Ich bin nur ein Feierabend-Fan. Noch.
Ich habe mir jetzt selbst ein Ultimatum gesetzt: Wenn der HSV bis März so weitermacht, ziehe ich Konsequenzen. Dann gehe ich nur noch zum Handball.
Oder ich suche mir einen anderen Club (einer meiner Söhne liebäugelt neuerdings mit dem BVB, weil sein Trainer Dortmund-Fan ist). Falls ich das nicht übers Herz bringe, bleibt mir nur noch ein Ausweg: Ich werde Mitglied beim HSV – und mache mit, statt weiter leise zu leiden.
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Erschienen am 11.Februar 2014 in WELT und HAMBURGER ABENDBLATT.