Kaum jemand hat in Hamburg so viel Einfluss wie BUND-Chef Manfred Braasch und Manfred Brandt von der Initiative „Mehr Demokratie“. Ein Doppelporträt.
Es gibt diese Menschen, die niemals aufhören zu kämpfen, egal ob für oder gegen etwas, die unbedingt die Welt verbessern müssen. Bei manchen weiß man nicht so recht, was sie treibt. Bei anderen schon. Bei Manfred Brandt ist es wegen Hitler. Sagt er jedenfalls. Bei Manfred Braasch eher wegen des Schierlingswasserfenchels.
Die beiden Manfreds, der eine Jahrgang 1945, der andere 1964, gehören zu den einflussreichsten Männern Hamburgs, auch wenn sie nie in ein Parlament oder ein Amt gewählt wurden. Der 69jährige Moorburger Agrarwissenschaftler Brandt hat seit 1997 mit der Initiative „Mehr Demokratie“ maßgeblichen Anteil an der Stärkung der direkten Demokratie mittels Bürger- und Volksentscheiden – und an der nicht überall begrüßten Reform des Hamburger Wahlrechts. Jetzt schickt er sich an, mit einer neuen Volksinitiative die Bezirke zu echten Kommunen zu machen – und damit faktisch den Stadtstaat Hamburg zu zerschlagen, wie seine Gegner fürchten. Kürzlich fragte CDU-Bürgermeisterkandidat Dietrich Wersich deswegen: „Was ist eigentlich schlimmer für Hamburg: der Große Brand von 1842 oder Manfred Brandt mit seiner Initiative?“
Der fast 20 Jahre jüngere Manfred Braasch, Hamburger Geschäftsführer des Bundes Umwelt und Naturschutz (BUND), ist vielen in Politik und Wirtschaft vermutlich sogar noch lästiger. Er hat den SPD-Senat im vergangenen Jahr mit der Initiative „Unser Hamburg – unser Netz“ per Volksentscheid zum Rückkauf der milliardenteuren Energienetze gezwungen. Gegen den Willen von SPD, CDU, FDP, weiten Teilen der Wirtschaft, Vattenfall und E.on. Zusammen mit anderen hat der BUND die Elbvertiefung mit Hilfe einer Verbandsklage über Jahre verzögert. Am 2. Oktober 2014 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig nun abschließend, ob die Fahrrinne erneut angepasst werden darf. Urteilt sie zugunsten der Natur und ihrer bedrohten Pflanzen wie dem Schierlingswasserfenchel und gegen eine erneute Flussvertiefung, hätte das gravierende Auswirkungen für die Hafenwirtschaft. Denn viele der immer größer werdenden Containerschiffe könnten die Stadt dann künftig wohl nicht mehr erreichen. Genau eine Woche später, am 9. Oktober, verhandelt auch das Verwaltungsgericht in Hamburg über eine Klage von Braaschs BUND. Weil die Stadt seit Jahren die EU-Grenzwerte bei den giftigen Stickstoffdioxiden verletzt, könnten die Richter den Senat zu drastischeren Maßnahmen zwingen – etwa zur Einrichtung einer Umweltzone, einer City-Maut oder zu neuen Tempolimits.
Für viele ist der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Lüneburg lebende Ernährungswissenschaftler längst der heimliche Oppositionsführer – eine Art Springteufel der Hamburger Politik. Egal, worum es geht, irgendwann kommt ganz sicher Manfred Braasch mit einer Klage oder einer Volksinitiative um die Ecke. Dass Bürgermeister Olaf Scholz nicht jedes Mal die Hände vors Gesicht schlägt, wenn der Name Braasch fällt, liegt vermutlich nur daran, dass diese Geste nicht zu seinen Reaktionsmustern zählt.
Dabei sind sich Scholz und Braasch gar nicht unähnlich. Keiner von beiden ist ein Volkstribun, der volle Säle zum Tosen bringt. Beide beziehen ihre Überzeugungskraft aus dem nüchternen Argument, aus Faktensicherheit und dem emotionslosen Appell an die Vernunft. Braasch ist keiner, der mit vollem Herzen Barrikaden anzündet, der jederzeit losrennen könnte, um irgendeine Bastille zu erstürmen. Er schäumt nicht über, er lodert nicht, er wedelt auch nicht wild mit den Armen, wenn er spricht. Stattdessen blickt er ernst und bisweilen ein wenig schalkhaft durch seine nicht ganz dünnen Brillengläser, argumentiert und argumentiert, zählt, während man bei seinem Lieblingsitaliener an der Langen Reihe Nudeln isst, Urteile auf, zitiert Gutachten und beißt zwischendurch in aller Gemütsruhe in seine Spinat-Cannelloni. Langsam kauen, schlucken, dann das nächste Argument. Alles ganz klar. Wie das Wasser in seinem Glas. Dieser Mann ist einfach sicher, dass er Recht hat. Warum also sollte er die Stimme heben? Warum mit den Armen rudern oder die Fäuste recken?
Auch der ältere der mächtigen Manfreds, Manfred Brandt, ist eher der Gegenentwurf zu einem Cliché-Radikalinski. Der frühere FDP-Kommunalpolitiker ist klein und ein bisschen rundlich, sein Händedruck ist rau und kräftig, er spricht langsam und leise, kneift verschmitzt die Augen zusammen und rollt das R. Wenn er in Moorburg auf seinem alten Hanomag-Trecker sitzt oder in einem seiner Bäume Kirschen pflückt, sieht er aus, wie einer, der den Obsthof der Familie niemals verlassen hat. Einer, der der Scholle treu und immer auf dem Boden geblieben ist. Und ganz falsch ist das ja auch nicht. Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte dieses Mannes ist kein Obstbauer, sondern ein politischer Missionar. Und das hat mit Hitler zu tun.
Nicht nur weil es Hitler und seine Nationalsozialisten waren, die 1937 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz die kleinen Gemeinden der großen Hansestadt zuschlugen, ihnen die Eigenständigkeit nahmen und eine zentralistische Einheitsgemeinde schmiedeten – die Brandt nun gerne wieder zugunsten stärkerer Bezirke schwächen will. Auf die Frage, was ihn zu diesem endlosen Kampf für mehr Basisdemokratie treibt, sagt er: „Ich frage mich bis heute, wie Hitler möglich war.“ Nicht im Volk hätten die Nazis eine sichere Mehrheit gehabt, glaubt Brandt. „Aber im Parlament waren die überzeugten Demokraten in der Minderheit.“
Nach dem Krieg ist Brandt, der mit zwei älteren Brüdern und einer Zwillingsschwester aufwuchs, mit seinem Vater regelmäßig zum Großmarkt gefahren. Das mit den sechs Millionen Juden, das stimme doch gar nicht, erzählten sie da. Oder: „Demokratie, das ist nichts für uns Deutsche.“ Heute redeten manche in früheren Ostblockstaaten so über Demokratie, sagt Brandt und lacht für den Fotografen von seinem alten, kleinen Traktor – nicht ohne schnell den alten Klassiker loszuwerden: „Zwei Kilo Schrott, ein Kilo Lack, fertig ist der Hanomag.“
Im Grunde sei auch Willy Brandt noch zu misstrauisch gewesen, findet er. Mehr Demokratie wagen, schön und gut. „Aber wieso sollte Demokratie denn ein Wagnis sein?“ Wenn etwas gegen mörderische Figuren wie Hitler helfe, dann sei es gerade die Demokratie, so sieht Manfred Brandt das, ein System, in dem die Menschen wirklich mitreden und mitbestimmen können.
Aber Hitler ist nicht der einzige Grund. Brandts Beharrlichkeit lässt sich nicht ohne die Hafenerweiterung verstehen. Seit 1961 gehört der Hof am Moorburger Elbdeich, auf dem er groß geworden ist, zum Hafenerweiterungsgebiet, seit 1982 zum Hafenentwicklungsgebiet. Nach seiner Rückkehr aus Kiel, wo Brandt bis kurz vor der Rente als Dozent arbeitete, mit seiner früheren Frau drei Kinder großzog und für die FDP Kommunalpolitik machte, hat er seine an Parkinson erkrankten Eltern auf diesem Hof gepflegt. Heute beherbergt er hier eine kleine Künstlerkolonie, und hin und wieder organisiert er Ausstellungen unter dem Motto „Kunst und Kirschen.“ All das unter der permanenten Bedrohung. Denn wenn die Herren im Hamburger Rathaus es wünschen, verschwindet auch Moorburg – wie das benachbarte Altenwerder, das längst einem Containerterminal gewichen ist. „Man hätte 1961 und 1982 mit Normenkontrollklagen gegen die Erweiterung vor Gericht ziehen können“, sagt Brandt. „Aber das hat niemand durchgezogen.“ Also lebt man in Moorburg mit der Angst, aber auch mit dem Stolz des noch ungebeugten Dorfs. Vielleicht zahlt Brandt Hamburg dessen aggressive Expansion auch ein wenig heim mit seiner politischen Arbeit, vielleicht sind all die Volksentscheide für den Moorburger das, was für Asterix und Co der Zaubertrank ist: eine Kraftquelle im Überlebenskampf.
Es kann aber auch sein, dass dieser fast schon penetrant entspannt wirkenden Revoluzzer aus Moorburg die Aufmüpfigkeit in den Genen trägt. Bis ins 16. Jahrhundert lasse sich die Familienlinie der Brandts zurückzuverfolgen, erzählt er. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass auch Hein Brand ein Vorfahre von ihm ist – der Mann, nach dem die Brandtstwiete in der Hamburger Altstadt benannt ist. Hein Brand wurde Anfang des 15. Jahrhunderts in Hamburg verhaftet, weil er den Herzog Johann von Sachsen-Lauenburg auf der Straße beschimpft hatte, da dieser ihm seine Schulden nicht zurückzahlte. Die Hamburger protestierten gegen die Verhaftung und „Bürger Brand“ wurde freigelassen. Bürgermeister Kersten Miles soll sogar einen Bürgerkrieg befürchtet haben. Nach Verhandlungen mit den Aufständischen wurde der „erste Rezess“ von 1410 vereinbart, der den Bürgern mehr Mitspracherechte durch Bürgerabstimmungen einräumte, und als erste Hamburger Verfassung gilt. „Damals waren die Hamburger in Europa Vorreiter der direkten Demokratie“, sagt Manfred Brandt. „Später haben sie das dann leider wieder vergessen.“
Der 1410 eingeschlagene Weg ist nicht zuende
Der auch dank Hein Brand eingeschlagenen Weg ist für seinen möglichen Nachfahren noch lange nicht zu Ende. Jetzt will er die Bezirke stärken – ein Vorhaben, über das schon seit Jahrzehnten gesprochen, das aber nie wirklich entschieden und entscheidend durchgesetzt wurde. Über dieses Vorhaben sollen die Hamburger parallel zur nächsten Bundestagswahl abstimmen. Und auch einen zweiten Volksentscheid peilen Brandt und „Mehr Demokratie“ an: Verfassungsänderungen, die die Bürgerschaft beschließt, sollen künftig von den Bürgern abgesegnet werden müssen – durch Referenden.
Bei allem Engagement für die Macht der Bürger – eines will Brandt auf keinen Fall, wie er betont, während er aus einem seiner Kirschbäume herabsteigt: eine Umfrage-Demokratie. Mal schnell online die Menschen befragen und danach regieren, das hält er für keine gute Idee. Jeder Volksentscheid brauche Zeit, beide Seiten müssten ihre Argumente vortragen – und die Bürger diese gegeneinander abwägen können.
Allerdings hat nicht alles in Brandts Leben mit Politik zu tun. Es gibt auch noch die Kunst. „Jeder Mensch hat ein Künstlergen“, glaubt er. Auf dem Gelände des Obsthofs, der mit seinen offenen Häusern und den überall herumwerkelnden Menschen ein wenig wie eine Kommune gereifter Hippies wirkt, hat er sogar Skulpturen des bekannten Bildhauers Winni Schaak stehen. Und wenn Brandt nicht gerade auf dem Hanomag oder im Baum rumklettert oder Politiker vor sich hertreibt, versucht er sich auch selbst an Schmiedearbeiten.
In Wahrheit sind wir alle Künstler
Ein Künstlergen besitzt wohl auch der jüngere der Manfreds, BUND-Chef Braasch. Der in Itzehoe aufgewachsene Sohn eines Lokführers hat vor seinem Studium eine Druckerlehre absolviert und bedruckt bis heute in seinem Lüneburger Keller alle möglichen Materialien. Schon dreimal hat er seine Werke im Museum der Arbeit ausgestellt. Zuletzt hat er aber vor allem geschrieben. Kürzlich hat Braasch den Krimi „Zucker und Altschnee“ bei epubli im Selbstverlag veröffentlicht. Darin geht es um das Millionengeschäft mit Diabetes, einen Mord in den Alpen und eine mutige Journalistenschülerin, die ein Komplott aufdeckt. Aber all das reicht dem umtriebigen 50-Jährigen noch nicht, der jeden Tag mit dem Metronom aus Lüneburg anreist, um Hamburg aufzumischen. Deswegen tritt er nebenbei auch als Zauberkünstler Mandini bei Kindergeburtstagen auf (zauberer-mandini.de). In Wahrheit glaubt Braasch natürlich nicht an Zauberei – , sondern an gut einstudierte Tricks, nicht an Wunder, auch nicht an einen himmlischen Gott. Manfred Braasch bezieht sein Sendungsbewusstsein und seine Kampfeslust allein aus dem Irdischen, aus dem Glauben, „dass wir die Verhältnisse innerhalb der Demokratie verbessern können“ – und aus der Kraft der Natur, aus der Rolle als Anwalt von Löffelente und Schierlingswasserfenchel: „Die haben außer den Naturschutzverbänden ja niemanden, der sich für ihr Überleben einsetzt.“
Auch Manfred Brandt zieht seine Energie vor allem aus der Natur. „Am besten kann ich im Kirschbaum über Gott und die Welt nachdenken“, sagt der bäuerliche Basisdemokrat. Wobei er nicht wirklich an einem menschenähnlichen Gott glaubt, der irgendwo wacht und richtet. „Ich sehe das wie Feuerbach: Der Mensch schuf sich Gott nach seinem Bilde.“ Was nicht zwangsläufig heißt, dass es keinen gibt. Einer seiner besten Freunde ist Pastor. „Sollte ich vor ihm gehen“, sagt Brandt und lächelt leise, „dann soll er an meinem Grab über mich sagen: ‚Hey much de Minschen – de Lütten lever as de Grooten’.“
Alle Fotos hat Roland Magunia gemacht. Der Artikel ist am 13. August 2014 erschienen in WELT und HAMBURGER ABENDBLATT.