Nur nicht anecken: Die neue Milde der Hamburger Grünen

Erstaunlich, aber Krawatten sind offenbar immer noch ein Thema. Die politischen Stilkritiker der Bildzeitung haben kürzlich jedenfalls mal so halbempört darauf hingewiesen, dass der Grüne Jens Kerstan der erste Senator seit Urknall gewesen ist, der sich ohne Halsgebinde im Hamburger Rathaus auf die Regierungsbank gesetzt hat.

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Kann auch mit Krawatte: Jens Kerstan
beim Foto-Shooting vor seiner Behörde.

Immerhin, das Hemd hatte der neue Umweltsenator  wohl in der Hose, sonst hätte ihn am Ende noch jemand mit dem grinsenden Griechenrevoluzzer Varoufakis verglichen – und das wäre nun wirklich ein großer Irrtum. Denn das revolutionäre Potenzial des 49-jährigen Grünen-Politikers ist mit der offenen Zurschaustellung des eigenen Halses bereits vollständig ausgeschöpft.

Die Politik, die er und seine Freunde seit Einzug in den Senat machen, ist in Wahrheit durch und durch beschlipst – wenn man das Stück Baumeltuch als Ausweis eines Stils nimmt, der sich an alle Regeln hält und niemanden verschrecken möchte.

Süße Schoßhunde statt politische Inhalte

Schon im Wahlkampf hatten die Grünen ja lieber süße Schoßhunde mit Haarschleifen als politische Forderungen plakatiert. In den Koalitionsverhandlungen mit der SPD verzichteten sie ohne Aufhebens auf zentrale Forderungen wie die Stadtbahn und begnügten sich mit Nebenressorts.

Und in dieser Woche erklärte Jens Kerstan, der bis Februar als Fraktionschef noch den grünen Chef-Wadenbeißer gegeben hatte, dass man trotz EU-Mahnung wegen schlechter Luft keine Umweltzone brauche. Auch die alte Forderung, Tempo 30 flächendeckend einzuführen, legte er zu den Akten – und verteidigte statt dessen die bei vielen Anwohnern wegen des Lärms verhassten Harley Days.

Nicht mal zur Mülltrennung mag der Umweltsenator die Hamburger zwingen – obwohl sie die wohl größten Recycling-Muffel westlich des Ural sind. Auf Bußgelder gegen Hausbesitzer und Vermieter, die keine Trenntonnen aufstellen, wird trotzdem verzichtet.

Wokgemüse essen mit ganz neuen Freunden

Dafür sucht Kerstan neue Freunde: Am Mittwoch ging er mit dem Chef des Industrieverbandes, Michael Westhagemann, mit dem er sich vor der Wahl monatelang befehdet hatte, in Wilhelmsburg Wokgemüse essen.

Der Wunsch der einstigen Öko-Rebellen, von allen geliebt zu werden, ist so eklatant, dass ihn auch in der Partei kaum jemand leugnet. Die Gründe für die neue Harmoniesucht liegen auf der Hand: Die Niederlage beim Schul-Volksentscheid, die Debatte über den Veggie-Day, aber auch die Dresche, die man bezog, als man die  Harley Days 2011 verbieten wollte, wirken bis heute traumatisch. Daher wollen die Grünen schnell weg vom Image der Verbots- und Verordnungs-Partei. Gewichtige Inhalte sind dabei nicht von Nutzen.

„Wir haben bei der Bundestagswahl sehr klare Ansagen gemacht. Das Ergebnis ist bekannt“, sagt Grünen-Parteivize Michael Gwosdz heute mit Blick auf das grüne Steuerkonzept. „Wenn man tolle Ideen aufs Papier bringt und damit auf die Schnauze fällt, hat dann auch keiner was davon.“

Neues Vorbild ist ein älterer Herr aus dem Süden

Statt den Parteilinken Jürgen Trittin haben sich die Hamburger Grünen deswegen ein anderes Vorbild gewählt: den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. „Wir haben uns genau angesehen, wie das unsere Parteifreunde machen“, so Parteivize Gwosdz. „Sie liegen in aktuellen Umfragen über dem Wahlergebnis von 2011. Was wir von Winfried Kretschmann lernen können ist seine ‚Politik des Zuhörens‘.“

Die Menschen müssten stark einbezogen werden. Heißt wohl auch: Man trieze den  Bürger nicht mit Besserwisserei!

„Wir haben natürlich aus den Debatten gelernt“, sagt auch die neue Grünen-Chefin Anna Gallina. „Niemand möchte bevormundet werden. Und niemand sollte sich mit dem ausgestreckten moralischen Zeigefinger über andere erheben.“

Leider kein Zugriff aufs eigene Kernthema

Umweltsenator Kerstan analysiert derweil, dass die Grünen als „Graswurzelbewegung“ im Grunde sowieso nicht auf „Politik von oben oder den starken Staat“ setzten.  „Uns geht es um Mitbestimmung und Beteiligung. Dazu passt es nicht, große Projekte am grünen Tisch zu entwerfen und den Menschen vorzusetzen. Da haben wir unter Schwarz-Grün Fehler gemacht.“

Also heißt es jetzt: Lieber ein paar Kilometer Radweg bauen als eine Stadtbahn bloß planen. Am Ende werde man an der Verkehrspolitik gemessen, glaubt Parteivize Gwosdz. Es gehe als erstes darum, dass man die „Fahrradstadt“ voranbringe.

Dumm nur, dass das Verkehrsressort bei Wirtschaftssenator Frank Horch liegt. Dass die Grünen keinen direkten Zugriff auf ihr wichtigstes Thema haben, könnte für Ärger sorgen. Und hat es auch schon.

Erster kleiner Knatsch im rot-grünen Senat

So hatte Umweltsenator Kerstan jetzt durch seine Kontakte einen Kompromiss mit Naturschützern zum Bau der A26 eingefädelt. Er soll sich, wie man hört,  geärgert haben, dass die Wirtschaftsbehörde das als ihren Erfolg verbucht habe – obwohl sie nach Aussagen von beteiligten Naturschützern eher gestört als geholfen hatte. Kerstan nimmt das Beispiel A26 aber auch als Beleg dafür, dass es oft wichtiger sei, „hinter den Kulissen gute Arbeit zu machen“ als laut aufzutrumpfen.

Gleichwohl sind nicht alle glücklich mit der Leisetreterei.  „Ein neuer Stil darf nicht dazu führen, dass Inhalte verloren gehen“, sagt etwa Emma Hansen, Sprecherin der Grünen Jugend. Da habe sich durch den Regierungseintritt „einiges überraschend schnell geändert“. Es sei „schade“, dass die Umweltzone kein Thema mehr sei, so Hansen. „Seit wir mitregieren, wird auch die Frage, ob Hamburg sich für Olympia bewirbt bei den Grünen nicht mehr diskutiert. Es geht nur noch um das Wie.“

Ein bisschen politisch wollen die Grünen bleiben

Ein weiterer Profilverlust und eine stärkere Entpolitisierung wären mit den  Jungen in der Partei wohl nicht zu machen. Aber auch die Ältergedienten warnen vor diesem Trend. „Manche, auch bei uns, meinen ja mittlerweile, Politik solle im Grunde nur noch moderieren“, sagt Parteivize Gwosdz.  „Ich sehe das anders. Politik und Parteien haben die Aufgabe und die Pflicht, mit eigenen Positionen und Ideen in Debatten zu gehen und dafür zu streiten.“

Streiten? Krass! Nicht dass am Ende noch jemand böse wird auf die Grünen.

In leicht gekürzter Form erschienen als Kolumne „Die Woche im Rathaus“ im Hamburger Abendblatt am 4. Juli 2015. 

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