Noch nie waren wir so aufgeregt wie heute. Zu diesem Schluss könnte man kommen, wenn man manche politischen Debatten verfolgt. Zwar profitieren die meisten Menschen in Deutschland von prosperierender Wirtschaft, guter Gesundheitsversorgung, kostenloser Bildung, sozialer Absicherung, Jahrzehnten des Friedens und einem Leben in Sicherheit. Davon haben frühere Generationen nur geträumt.
Und doch sind Unzufriedenheit und Wut bei vielen so groß, als seien gerade Krieg und Pest ausgebrochen, als rase ein mondgroßer Komet auf Mutter Erde zu und als stünde die Hälfte der Menschheit kurz vor dem Hungertod. So jedenfalls wirkt es, wenn man manche politischen Äußerungen in Medien und Debatten im Netz verfolgt.
Die einen rücken Autofahrer oder Menschen, die ein Flugzeug besteigen, da fast schon in die Nähe von Schwerverbrechern. Die anderen bezeichnen den dringend nötigen Kampf gegen die Erderwärmung als „Öko-Faschismus“. Unversöhnlicher geht es kaum. Um nur ein Beispiel zu nennen. Auch bei anderen Themen wirken manche Diskussionen mittlerweile so irre überdreht, als hätte uns jemand tonnenweise Crack ins Trinkwasser gekippt. Als gehe es den Menschen nur noch darum, ihr Adrenalin irgendwie loszuwerden – und nicht darum, die tatsächlich drängenden Probleme der Gegenwart zu lösen, wie etwa die Klimakrise. Dabei wissen nicht nur Ärzte, dass man in große und schwierige Operationen nicht aufgeregt mit Kettensäge und Vorschlaghammer geht – sondern mit Ruhe und feinem Besteck.
Die aktuelle Überspanntheit spiegelt sich auch darin, dass es den Volksparteien zuletzt immer schlechter geht. Sie stehen dafür, dass Politik nicht nur gerade angesagte Aufregerthemen, sondern das große Ganze im Blick haben muss. Dass unterschiedlichste Menschen sich gemeinsam engagieren – und Politik in Demokratien eine Kunst des Kompromisses ist. Diese Form der Nüchternheit wurde zuletzt kaum noch geschätzt.
Vielleicht aber haben die Menschen ja irgendwann genug von der Dauerhysterie – und sehnen sich nach einer Politik, die in Ruhe tragfähige Kompromisse erarbeitet. Darauf setzt auch die SPD, die sich im Hamburger Wahlkampf als Partei von Maß und Mitte präsentieren will, die die ganze Stadt im Blick behält. Dass das Konzept aufgehen könnte, zeigt eine jetzt veröffentlichte Umfrage.
Demnach sind die Hamburger zufrieden mit dem Leben in ihrer Stadt, freuen sich über eine starke Wirtschaft und gute Jobs – und setzen die erste Priorität in der heiß umkämpften Verkehrspolitik weder auf die einseitige Förderung des Rad- noch des Autoverkehrs, sondern auf den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs (der für die Massen in einer so großen Metropolregion weit wichtiger ist als das Fahrrad). Das wirkt wie eine sehr pragmatische Position der Mitte. Angst vor Kriminalität oder Problemen bei der Integration von Zuwanderern spielen eine untergeordnete Rolle und die Hamburger schätzen sich selbst als als tolerant, weltoffen und entspannt ein. Auch das spricht dafür, dass mit Extremen in Hamburg nicht viel zu holen ist.
Die größte Herausforderung wird es bei alldem bleiben, den Anstieg der Wohnkosten zu begrenzen. Erschreckende 51 Prozent der Hamburger fürchten laut Umfrage, sich das Leben in der Stadt bald nicht mehr leisten zu können. Auch das aber könnte der SPD nützen. Denn sie hat die Bedeutung des Themas, das andere verpennt haben, als Erste erkannt und ein massives Bauprogramm gestartet. Während anderswo über Enteignungen gefaselt wird, wurde in Hamburg angepackt und gebaut – was dazu geführt hat, dass die Mieten nicht so stark steigen wie anderswo. Immerhin.
Die Umfrage belegt zwar, dass die Anstrengungen gesteigert werden müssen. Sie lässt aber auch vermuten, dass die Mehrheit der Hamburger bei der Lösung von Problemen wenig von aufgeregten Parolen hält – sondern auf Gelassenheit und Pragmatismus setzt. Wie nennt man das doch gleich? Ach ja: hanseatisch.
Erschienen in leicht veränderter Form als Leitartikel im „Hamburger Abendblatt“ am 13. September 2019