Es ist dieser Tage, und das passt ganz gut zu Passionszeit und Osterfest, vieles eine Glaubensfrage. Denn belastbares Wissen gibt es bisher weder über eine Auferstehung von den Toten noch über die Sterberaten der vom neuen Coronavirus ausgelösten Erkrankung Covid-19. Und auch nicht darüber, wie dramatisch diese Pandemie langfristig die Gesundheit der Menschen, die Wirtschaft und politische Systeme beschädigen wird.
Coronavirus: Expertenmeinungen gehen auseinander
Die Bandbreite der Expertenmeinungen zeigt sich exemplarisch an zwei Stellungnahmen. In einem Strategiepapier des Bundesinnenministeriums vom März wird davor gewarnt, selbst nach mildem Verlauf könnten Geheilte jederzeit Rückfälle erleben und plötzlich sterben.
Die Sterblichkeit sei durch Verweise auf angeblich hohe Dunkelziffern und viele asymptomatische Fälle lange heruntergespielt und die Gefahr durch das Virus damit unterschätzt worden.
Ein ganz anderes Bild zeichnet dagegen ein kürzlich von Medizinern, Juristen und Soziologen veröffentlichtes „Thesenpapier zur Pandemie durch Sars-CoV-2 / Covid-19“. Darin behaupten die Autoren, bis zu 80 Prozent der Infektionen verliefen ohne Symptome, und Kliniken und Pflegeheime würden zu Hauptquellen der Ansteckung.
Wie aussagekräftig ist die „Verdopplungszeit“?
Das Abstandhalten („Social Distancing“) wirke zudem paradox, weil es die Immunisierung vieler Menschen verhindere und so zu einer zweiten Welle führen könne. Die Autoren betonen, dass unvollständige Daten zur Überschätzung der Sterblichkeit führten und zur Begründung massiver Einschränkungen langfristig nicht ausreichten – zumal es auch um Demokratie, Bürgerrechte und soziale Fragen gehe.
Es sei angesichts der Teststrategie „nicht sinnvoll“, von der „Verdopplungszeit weitreichende Entscheidungen abhängig zu machen“. Diese zuletzt immer wieder genannte „Verdopplungszeit“ gibt an, wie viele Tage es jeweils dauert, bis sich die Zahl der Infizierten verdoppelt.
Auch Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) hat sich zuletzt auf die in Hamburg jetzt deutlich gestiegene Verdopplungszeit berufen und dies als Ergebnis ihrer guten Politik gedeutet.
Novum: Gesundheitsstaatsrat übt Kritik
Dabei ist an dem Papier nicht nur der Widerspruch zur Regierungsstudie interessant – sondern auch ein Blick auf die Autoren. Einer davon ist nämlich Hamburgs Gesundheitsstaatsrat Matthias Gruhl. Es dürfte ein Novum sein, dass ein Spitzenbeamter per öffentlichem Meinungsbeitrag mittelbar Kritik an der Politik übt, wie sie auch seine Senatorin betreibt.
Gruhl selbst, der als absoluter Fachmann gilt und aus dem Dunstkreis des Senats als „freundlich formuliert: ein Freigeist“ charakterisiert wird, sieht keine Probleme. Er habe die Senatorin „nach Veröffentlichung auf den Beitrag hingewiesen und ihn als private Meinungsäußerung eingeordnet“, sagte Gruhl dem Abendblatt.
Es gehe „um die vor uns liegende Phase der Krisenbewältigung zum Wohle der gesamten Bevölkerung“. Letztlich vertreten Gruhl und seine Mitautoren die These, dass in Ermangelung einer Impfung eine Immunisierung durch ein kontrolliertes Infektionsgeschehen nötig sei. So ähnlich hatte es auch Bürgermeister Peter Tschentscher einmal gesagt. Dabei sollen Risikogruppen gezielt geschützt werden.
„Durchseuchung“ ist kein politisches Ziel
Das Problem: Eine „Herdenimmunität“, die die Epidemie stoppt, wird laut Experten erst bei etwa 70 Prozent Infizierten erreicht. Das würde für Hamburg in nackten Zahlen bedeuten: Rund 1,3 Millionen Menschen müssten sich anstecken.
Müssten davon zehn Prozent stationär behandelt werden (nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts mussten zuletzt 15 Prozent der nachgewiesen Infizierten in die Klinik), wären das 130.000 Menschen. Bei einer Sterblichkeit von einem Prozent wären 13.000 Tote in der Hansestadt zu beklagen.
Das bleibt zum Glück eine hypothetische Horrorrechnung, da man erstens nicht weiß, wie viele Menschen wirklich infiziert sind – und zweitens eine solche „Durchseuchung“ auch kein politisches Ziel ist.
Schutz der Gesundheit hat Priorität
„Es ist eine medizinische Tatsache und keine Strategie des Senats, dass bei einer Infektionskrankheit, gegen die es keinen Impfstoff gibt, erst bei einer Immunität von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung davon auszugehen ist, dass die Erkrankung gestoppt ist“, betont Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks.
„Im Senat herrscht Einigkeit, dass bei Überlegungen über gewisse Lockerungen der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere der Menschen mit höherem Risiko einer schwerwiegenden Erkrankung absolute Priorität hat.“
„Bedenklich für Demokratien, wenn alles nach Einheit strebt“
So zeigen die Studien und Papiere der jüngeren Zeit eben auch eines: Es gibt keine völlig einhellige Expertenmeinung, an der Politiker sich sicher orientieren könnten. Stattdessen muss Politik selbst die Verantwortung übernehmen. Und da wird nach Wochen des Ausnahmezustands auch in Hamburg der Ruf nach Bildung der neuen Regierung und Einbeziehung des Parlaments immer lauter.
„Es ist sehr bedenklich für unsere Demokratie, wenn in der Krisenbewältigung alles nach Einheit strebt“, sagt Linken-Gesundheitspolitiker Deniz Celik. „Die Bürgerschaft muss gerade in Krisenzeiten wieder der Ort sein, wo der demokratische Streit um die besten Lösungen und Alternativen ausgetragen wird. Deshalb muss die neue Regierung schnell gebildet werden. Rot-Grün steht in der Pflicht, das Parlament schnellstmöglich arbeitsfähig zu machen.“
Ungeduld bei den Grünen
Auch unter den Grünen werden diese Forderungen lauter. „Werden nächste Woche endlich die Koalitionsverhandlungen losgehen?“, fragte die bei der Wahl zur Eimsbüttler Bezirksamtsleiterin gescheiterte Grünen-Politiker Katja Husen Anfang April bei Twitter. Auch weil die Krise schlimmer werden könne, „hätte ich dann schon endlich mal gerne eine demokratisch legitimierte Regierung und kein Kommissariat“, so Husen.
„Nun sind wir so gut in dieser besonderen Lage organisiert, dass es langsam mit Verhandlungen losgehen sollte“, sagt auch Umweltsenator Jens Kerstan. Schließlich treffe man sich auch im Senat unter Vorsichtsregeln, das gehe auch bei Koalitionsverhandlungen. Aus der SPD heißt es, Grüne könnten das nur fordern, weil sie viel Zeit hätten.
Denn die Hauptlast der Krisenbewältigung trügen mit Bürgermeister und den Senatoren für Gesundheit, Finanzen, Soziales und Wirtschaft SPD-Leute. Langfristig aber, das weiß auch die SPD, kann man nicht im Provisorium regieren – und den Eindruck erwecken, Grundregeln der Demokratie seien außer Kraft gesetzt.
Koalitionsvertrag vor der Sommerpause
„Vor der Sommerpause sollten wir einen Koalitionsvertrag haben“, betont jetzt auch SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf. Grünen-Chefin Anna Gallina pflichtet bei: „Ich bin sicher, dass uns das gelingt und wir nach dem 20. April, in dem Wissen um den weiteren Umgang mit den Herausforderungen, einen guten Prozess aufsetzen werden.“
Auch in der Bürgerschaft gäbe es einiges zu diskutieren – über die richtige Coronastrategie oder bisherige Versäumnisse. „Trotz Pandemieplänen ist Hamburg unvorbereitet gewesen“, sagt etwa Linken-Gesundheitspolitiker Celik. „Die ungenügende Bevorratung von Masken und Ausrüstung führt dazu, dass Ärzte und Pflegekräfte ihr Leben gefährden.“
Und der Bundestagsabgeordnete und CDU-Landesvize Christoph de Vries – insgesamt sehr zufrieden mit der bisherigen Krisenbewältigung durch den Senat – nennt einen Punkt, über den man diskutieren könnte. „Ich hätte mir eine stärkere Stimme im Umgang mit der Abschottungspolitik Schleswig-Holsteins gewünscht“, so de Vries. „Da wurden Grundsätze eines partnerschaftlichen Miteinanders verletzt.“
Coronakrise in Hamburg: Wiedererweckung der Demokratie
So zeigt sich nach einem Monat Ausnahmezustand: Die Wochen nach Ostern könnten auch eine Zeit der Wiedererweckung der Demokratie zu gesunder Lebendigkeit werden.
Schaden könnte das vermutlich nicht. Hat doch die jüngere Geschichte dieses Landes und dieser Stadt gezeigt: Gerade die offene Debatte führt – auch bei größten Herausforderungen – oft zu den besten Lösungen.
Erschienen am 11. April 2020 als Kolumne „Die Woche im Rathaus“ im „Hamburger Abendblatt“.