Es wären die Bürger, die nun endlich das Leistungsprinzip durchsetzen würden – gegen die Ego-Fetischisten in manchen Banken, Vorständen und an den Börsen. So hatte es ein konservativer Richter gehofft, der mit mir in einer nebligen Oktober-Nacht ein Bahnabteil teilte. Das war kurz nach Beginn der Krise. Heute sieht alles anders aus, oder schlimmer: alles gleich. Dieselben Akteure machen dieselbe Politik wie vor Krisenbeginn.
Es ist neun Monate her, da saß ich im muffigen Abteil eines hoffnungslos verspäteten Intercity, der quer durch eine nasskalte Nacht zurück von Berlin nach Hamburg fuhr, und fragte mich unentwegt, ob der Mann neben mir ein Rechter oder ein Linker sei, ein Revoluzzer oder ein Konservativer, ein Bewahrer oder doch ein Umstürzler. Er war um die siebzig, pensionierter Richter des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichtes, las (so jedenfalls erzählte er es mir) täglich die FAZ und besaß ein kleines (halb ererbtes) Haus im gutbürgerlichen Hamburger Stadtteil Aumühle, dessen Garten seit seiner Pensionierung zu seiner großen Leidenschaft geworden war.
Zusammen mit seiner freundlichen aber nervösen Frau (die allezeit fürchtete, den rechtzeitigen Moment zum Ausstieg in Hamburg-Bergedorf zu verpassen) hatte er in den Tagen zuvor die Frauenkirche in Dresden besucht. Nahezu empört zeigte er mir einen Katalog der Ausstellung und beklagte sich über einige seines Erachtens viel zu moderne Kunstwerke, die dort zu sehen seien. Diese seien „unentschlüsselbar“ und also eine Zumutung, befand er apodiktisch.
„Ich bin konservativ, ich glaube an die Verantwortung des Staates“
Dann geschah das, was in diesen Tagen unvermeidbar war: Wir sprachen über die so genannte Finanzkrise. Er schüttelte den Kopf und sagte, er wundere sich darüber, dass die Bürger so ruhig blieben. Nein, er sagte nicht: die Arbeiter, die Angestellten, die Beamten, das Volk, die Arbeitslosen. Er sagte: die Bürger. Wie könne es denn sein, dass ein paar Manager, ein paar Banker und ein paar „Schreihälse an den Börsen“ Millionen und Abermillionen verdienten und dabei zugleich Familien und Menschenleben vernichteten, ohne dass „die Bürger“ sich wehrten? Und warum eigentlich werde seit Jahren in einer Art „elitärer Zwangsneurose“ alles privatisiert, was der Gemeinschaft diene und ihr deswegen auch gehöre? → weiterlesen